Zum Inhalt springen

«Die Islamisten waren die Hot Shots»

Zwei Schwestern ziehen zum IS in den Krieg, ihr Vater reist ihnen nach in die syrische Hölle. Wie kam es dazu? Autorin Åsne Seierstad erzählt von ihrer Recherche über zwei Mädchen, die ein gutes Leben in Norwegen für den möglichen Tod tauschten

«Wie können Sie wissen, was die Familie gekocht hat?», will bei der Lesung später jemand wissen. «Alles Recherche», sagt Åsne Seierstad. Fürs erste Kapitel ihres neuen Buches habe sie mit zehn Leuten geredet. Das Kapitel ist 22 Seiten lang. Schmal und zierlich ist die 47-jährige Norwegerin. Mit heller Stimme und entwaffnender Selbstverständlichkeit spricht sie von ihrer Recherche über zwei Mädchen, die ein gutes Leben in Norwegen für den möglichen Tod in Syrien tauschten.

Frau Seierstad, die beiden Schwestern in Ihrem Buch schlossen sich dem IS in Syrien an. Wie geht es ihnen heute?

Åsne Seierstad: Vor zwei Wochen erfuhr ihr Vater über zwei Ecken, dass Ayan und Leila mit ihren Kindern aus Raqqa nach al-Bukamal an der Grenze zum Irak geflohen sind. Ayans Ehemann ist offenbar vor sechs Monaten verschwunden. Vielleicht ist er tot. Leilas Ehemann war bei ihnen.

Welche Zukunft haben sie jetzt, da das IS-Kalifat am Ende ist?

Der Vater hofft, dass sie in ein Flüchtlingslager gelangen. Sie sollten versuchen, da rauszukommen, sich nach Norwegen deportieren lassen, ihre Verurteilung entgegennehmen, ihre Strafe absitzen – und dann sind sie frei! Sie sind jetzt Anfang zwanzig und haben noch ein langes Leben vor sich. Sie könnten zur Einsicht kommen, dass es ein Fehler war, nach Syrien zu gehen. Oder aber sie denken: Je mehr wir leiden, umso besser wird der Platz im Paradies sein. Wir bleiben bis zum bitteren Ende.

Die Schwestern hatten eine Zukunft. Wann wurde der Schalter umgelegt?

Die Mädchen haben sich nicht selbst geäussert. Also musste ich versuchen, das herauszufinden. Ein wichtiger Faktor war der charismatische Koranlehrer, der ihnen einen Ort eröffnete, an dem der Islam etwas ist, das ihnen Kraft und Selbstwert gibt. Ein anderer Faktor war die Jugendorganisation Islam Net, der sie beitraten. Ihr Leben begann sich rund um den Islam zu entfalten: Der Islam war das Coolste und Beste, und alle anderen Einflüsse fielen weg – das Norwegische, die Schule, die Freundinnen. In diesen Jahren waren die Islamisten die neuen Kids in der Stadt, die Hot Shots. Der Islam fühlte sich für sie als der richtige Platz an. Richtig auch im Sinn von das, was Gott will, dass man tut.

Hat sie auch etwas aus der Gesellschaft vertrieben?

Ihre Freundin Aisha flieht vor einem beelendenden Leben. Dasselbe gilt für die jungen Männer. Die meisten Syrien-Fahrer waren Jungs, und von diesen sind 60 Prozent vorbestraft. Das ist so in den meisten europäischen Ländern. Sie fliehen vor einem Leben auf der Strasse, einem Leben mit Kleinkriminalität. Indem sie nach Syrien gehen, können sie sich freimachen.

Aber die beiden Mädchen hatten ja ein gutes Leben!

Natürlich gibt es da diese Erfahrung, Somali zu sein, schwarz in Norwegen zu sein, von einer stark stigmatisierten Gruppe zu stammen. Sie wissen, dass ihre Familie auf der tiefsten Stufe der Gesellschaft steht. Aber die Schwestern hatten die Möglichkeit, aufzusteigen, sie glänzten bereits. Für sie war die spirituelle Dimension wichtig. Sie tauchten tief in die Religion ein.

Geht es grundsätzlich für die Frauen eher um die Religion?

Für manche Männer war die Religion überhaupt kein Beweggrund. Sie gaben das vor, aber es ging für sie eher darum, im Krieg zu sein, ein Gewehr zu erhalten, zu kämpfen und einen Sinn im Leben zu finden. Es ist schwierig, zu generalisieren. Aisha hatte auch viele andere Anliegen. Aber für die beiden Schwestern war die Religion der wichtigste Faktor.

Als die Mädchen anfangen, den Nikab zu tragen, gehen sie in die Schule und streiten mit ihren Lehrern darüber. Was können wir von diesem Konflikt lernen?

Zu diesem Zeitpunkt wären Ayan und Leila sowieso nach Syrien gegangen. Aber das Wissen ist wichtig, und die Warnsysteme, die eine Gesellschaft errichtet. Heute gibt es Anti-Radikalisierungs-Kurse. Diese Mädchen wären erfasst worden. Sie folgten dem Abc der Radikalisierung, beginnend mit der Kleidung, dem Beten und der Schwarz-Weiss-Sicht, wenn sie sagen: «Ich kann einen Jungen nicht berühren.» Die islamistische Radikalisierung ist sehr offensichtlich, auch bei den Jungs mit dem Dresscode der Bärte. Anders als etwa bei Anders Breivik, bei dem es nur eine innere Radikalisierung gibt, die vor allem im Internet stattfindet.

Worum geht es in den Anti-Radikalisierungs-Kursen?

Es geht um Kooperation. Und die gibt es heute. Schulen, Jugendorganisationen, soziale Institutionen, Polizei und Familien arbeiten zusammen. Eltern sind fast nie radikalisiert, und das Letzte, was Eltern wollen, ist, dass ihr Kind ein Terrorist oder ein Selbstmordattentäter wird. Normalerweise haben die Eltern keine Ahnung davon, wenn ihre Kinder in extremistischen Organisationen rumhängen.

Genau das also, was der Vater mit dem Buch erreichen wollte.

Teilweise gibt es diese Sensibilisierung wegen des Buches. Der Vater redet heute auch an Veranstaltungen über seine Töchter. Aber es gibt in Norwegen auch nicht so viele Extremisten wie etwa in Frankreich oder England. Man kann sie überwachen, sie sind überschaubar.

Sie haben Anders Breivik erwähnt, über den Sie Ihr letztes Buch geschrieben haben. Gibt es Parallelen zu ihm?

In ihrer Ideologie sind beide faschistisch, im Glauben an das Extreme und in der Haltung, sich über andere zu stellen, in der Aussage, man müsse sie auslöschen. Aber es ist schwierig, in ihrer Persönlichkeit Parallelen zu sehen. Breivik ist eine Einzelperson, die sich diese Ideologie zusammensucht und sich selbst vorbereitet, um ganz allein diese vielen Leute umzubringen. Die beiden Mädchen hingegen folgen nur einem Trend in ihrem Umfeld.

Haben Sie die Mädchen manchmal bewundert?

(entschieden) Nein. Sie hätten es besser wissen müssen. Sie waren klug, aber sehr dickköpfig. Diese Dickköpfigkeit hat eine gute und eine schlechte Seite. Wer dickköpfig ist, kann etwas erreichen, aber man kann auch auf einen komplett falschen Weg geraten. Bewunderung ist nicht das richtige Wort. Sie tun nichts für andere. Es ist komplett egoistisch.

Zu Beginn wollten sie helfen.

Das sagten sie bloss, weil es gut klingt. Aber auf Youtube schauten sie sich nichts über leidende Kinder an. Da geht es nur um den Islam, darum, Allahs Weg zu folgen. Es ist religiös, nicht politisch und nicht humanitär, überhaupt nicht.

Das Kalifat ist gefallen, im Buch sprechen Sie vom «virtuellen Schlachtfeld». Wird der «Ruhm» des IS im Netz weiterleben?

Ihre goldene Zeit der Propaganda im Internet, als sie diese Videos machten, ist vorbei. Ihre Studios in Syrien sind bombardiert. Sie sind immer noch aktiv im Netz, aber es gibt viel weniger Propaganda. Bis 2015 war das Internet auch offener. Twitter war die Arena der Extremisten, viele hatten dort ihre Konten. Heute überwacht Twitter das.

Der Vater der Schwestern bat Sie darum, dieses Buch zu schreiben. Was war Ihr Kriterium, zuzustimmen?

Meine Unabhängigkeit. Ich wusste, dass sie auf die Probe gestellt werden würde. Wir machten einen Vertrag und es war sehr wichtig für mich, sicherzustellen, dass die Familie nicht plötzlich einen Rückzieher machen würde. Um zu sehen, was ich schreiben konnte, prüfte ich den Vater und fragte Dinge wie: Was passiert, wenn ich entdecke, dass Ihre Tochter einen geheimen Liebhaber hatte?

Gab es eine Grenze für ihn?

Nein. Am Schluss las er alles durch. Dann sagte er: «Done. Das ist gut so. Keine Änderungen.»

Keine Vorbehalte bei den Vorbesprechungen?

Es gibt im Buch eine Szene, in der ich schreibe «Er war die ganze Nacht wach und sass da, mit einem Glas in seiner Hand.» Jeder Leser versteht, um was es geht. Das war das Einzige.

Im Zentrum stehen die beiden Schwestern. Sie versuchten, mit ihnen zu reden, aber sie wollten nicht. Wie konnten Sie trotzdem über sie schreiben?

So wie wenn man eine Biografie schreibt über jemanden, der tot ist. Man spricht mit allen, die sie getroffen haben. Und natürlich geht man zu den schriftlichen Quellen. Da gab es einiges im Zeitalter von Social Media. Viel mehr als früher, als die Leute noch telefonierten.

Tolles Material für Journalisten!

Ja, es ist schwarz auf weiss und es ist sehr umgangssprachlich. Wenn die Schwestern mit ihrem Bruder chatten, kann man ihre Stimme hören, man kennt ihren Ton, man kann sich überlegen, ob sie überwacht werden, aber da sind Dinge, die sie dann wohl nicht geschrieben hätten. Man kann eine Menge herauslesen. Aber das ist klassische Recherche.

Und die ethische Frage? Die beiden haben nie ihre Zustimmung gegeben.

Sie haben nie geantwortet. Sie sagten aber auch nie: Nein. Ein Nein hätte ich auch nicht akzeptiert. Sie haben ja norwegisches Recht gebrochen. Der norwegische Verhaltenskodex für Journalisten sagt, wenn ein Thema wichtig genug ist für die Gesellschaft, kann man die Regeln des Persönlichkeitsschutzes aushebeln. Wenn das nicht so wäre, könnte man über viele Verbrechen nie schreiben. Die beiden haben ein Verbrechen begangen …

… indem sie sich einer Terrororganisation angeschlossen haben.

Genau, Anschluss, Zusammenarbeit, Unterstützung. Ich habe das Recht auf meiner Seite. Und natürlich wurde der Text auch norwegischen Richtern vorgelegt.

Ihr Buch liest sich wie ein Roman, auch wegen der doppelten Geschichte vom Vater und von den Töchtern. War das von Anfang an so geplant?

Ich konnte nie wissen, ob die Mädchen nach Hause kommen würden. Weil sie es nicht taten, übernahm der Vater gewissermassen die Geschichte. Er wird zu einer komplexen Figur, das trägt zu der romanartigen Qualität bei. Er ist nicht mehr nur der Vater, der seine Töchter sucht. Er kann sich selbst und anderen gegenüber nicht zugeben, dass seine Töchter ihn zurückgewiesen haben. Sie sagen: «Uns geht es gut. Wir werden hier sterben. Geh und leb dein eigenes Leben.» Ich hoffe, dass Leser sich dann überlegen: Was hätte ich empfunden? Was hätte ich gemacht?

Am Schluss zeichnen Sie das Bild der Babys der Schwestern.

Es war schwierig, das Buch zu Ende zu bringen: Wie beendet man eine Geschichte, bei der es kein Ende gibt? Ich musste mit dem neuen Leben enden.

Ist es als Drohung zu verstehen?

Eher als Tragödie. Was wird mit den Tausenden von Kindern passieren? Die Kinder, die von ihren Müttern oder Vätern nach Syrien gebracht wurden oder dort geboren sind: Was für ein furchtbarer Start ins Leben. Dafür tragen die Mädchen Verantwortung. Sie haben diese Kinder zur Welt gebracht. Sie hätten Syrien verlassen können. Sie hatten die Möglichkeit, zu fliehen. Und sie haben gewählt, das nicht zu tun.

Åsne Seierstad: «Zwei Schwestern»

Die eine wollte Diplomatin werden, die andere Rechtsanwältin, sie vertraten feministische Ideen. Doch innerhalb von zwei Jahren war plötzlich alles anders: «Wir haben euch sooo lieb», schreiben sie in einem Mail an ihre Eltern. Da sind die Schwestern Ayan und Leila schon weg, unterwegs nach Syrien, um sich dem Islamischen Staat anzuschliessen. Es ist der 17. Oktober 2013. Kurzentschlossen reist ihnen der Vater hinterher. An der syrischen Grenze verpasst er sie knapp, er engagiert einen Schmuggler und passiert die Grenze. 100 junge Leute fuhren aus Norwegen nach Syrien, 10 davon waren Frauen. Und nur ein Vater begab sich ins Kriegsgebiet im Versuch, seine Kinder zurückzuholen. «Zwei Schwestern» ist das sechste Buch in deutscher Übersetzung der mehrfach preisgekrönten 47-jährigen norwegische Journalistin und Kriegsreporterin Åsne Seierstad.

publiziert in AZ Nordwestschweiz / AZ Medien am 1. Dezember 2017. Bild © Raphael Moser