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Die Buddys von Solothurn

Im Sommer wurde die Direktorin der Solothurner Filmtage abgesetzt. Nun kürzt das Bundesamt für Kultur bereits beschlossene Gelder. Kann sich das Festival vom lokalen Filz befreien?

Sie hatten etwas zu feiern in Solothurn in diesem Sommer. Damals gab das Bundesamt für Kultur (BAK) bekannt, welche Filmfestivals der Bund in den kommenden vier Jahren mit wie viel Steuergeldern unterstützen werde. Die Solothurner Filmtage, eine Institution in der hiesigen Festivalszene, sollten künftig 460.000 Franken erhalten, 20.000 Franken mehr als bisher. Daraus wird nun nichts. In diesen Tagen hat das BAK entschieden, lediglich die bestehende Leistungsvereinbarung um ein Jahr zu verlängern – und im Frühling neu zu beurteilen, wie es weitergehen soll. Das zeigen Recherchen der ZEIT.

Der Entscheid der Berner Kulturbeamten ist eine Warnung an die Filmtage und ihre Führung, die seit Monaten für negative Schlagzeilen sorgen. Im Juni, an der Mitgliederversammlung, stellte sich der bisherige Präsident Felix Gutzwiller, ein ehemaliger FDP-Ständerat aus Zürich, überraschend nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung. Gleichzeitig traten zwei weitere Vorstandsmitglieder zurück. Als Übergangspräsident wurde der Solothurner Rechtsprofessor und langjährige Filmtage-Vorstand Thomas Geiser gewählt. Am Tag nach der Mitgliederversammlung wurde das E-Mail-Konto der Direktorin und künstlerischen Leiterin Anita Hugi gesperrt und ihr Zugriffauf den Server der Filmtage blockiert. Im August, als die ganze Schweizer Filmbranche am Festival in Locarno versammelt war, verschickte Geiser eine Pressemitteilung: Anita Hugi werde nicht nach Solothurn zurückkehren.

Hugi selbst war da bereits seit anderthalb Monaten krankgeschrieben und wurde erst kurz vor dem Versand der Mitteilung über den Entscheid des Vorstands informiert. Auch die Sponsoren und die Partner wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Kurz darauf wurden in den Medien Vorwürfe aus dem Umfeld des Geschäftsstellen-Teams gegen die entmachtete Direktorin laut. Auch Geiser kritisierte seine ehemalige Direktorin öffentlich: »Sie hat sich mit der gesamten Belegschaft der Solothurner Filmtage verkracht.« Gleichzeitig drohte er ihr mit fristloser Entlassung, wenn sie sich selbst zu Wort melden würde. Deshalb darf sich Hugi auch gegenüber der ZEIT nicht äußern.

Was sich in Solothurn abspielt, ist ein Machtkampf, in dem sich Generationen-, Geschlechter- und Modernisierungskonflikte überlagern. »Das Hauptproblem sind unterschiedliche Vorstellungen über die Themen Innovation und Zukunft«, sagt der ehemalige Präsident Gutzwiller. »Und es ist ein Strukturproblem.« Thomas Geiser bestreitet das: »Unterschiedliche Vorstellungen gibt es in jedem kreativen Team – und diese werden konstruktiv und offen diskutiert.« Wer einen Blick auf das Organigramm der Solothurner Filmtage im letzten Amtsjahr von Anita Hugi wirft, dem fallen allerdings drei Dinge auf: Die Überschneidungen zwischen Vorstand und Geschäftsleitung, die sehr lange Amtsdauer einiger Mitglieder in den beiden Gremien sowie seltsame familiäre Verbandelungen.

Der heutige Übergangspräsident Geiser und Rainer Portmann, der Sohn des Festivalgründers, sind seit 17 Jahren im Vorstand. In der 14-köpfigen Geschäftsleitung sitzen beide noch viel länger, nämlich seit Mitte der 1980er-Jahre; drei weitere Personen sind ebenfalls seit damals dabei. In der Geschäftsleitung sitzt auch die Tochter von Ivo Kummer, dem langjährigen Direktor der Filmtage, der heute beim BAK die Sektion Film leitet.

Als die BAK-Direktorin Isabelle Chassot diesen Sommer am Filmfestival Locarno Gespräche mit den Schweizer Filmfestivals führte, machte sie ihnen klar: das Thema Good Governance werde wichtiger Bestandteil der neuen Leistungsvereinbarungen sein. Das heißt: Die strategische soll von der operativen Ebene eines Festivals getrennt, die künstlerische Unabhängigkeit respektiert und eingehalten werden. Einzelne Personen sollten sich also nicht selbst in bestimmte Gremien wählen oder sich selbst kontrollieren oder beaufsichtigen können.

In einer Studie zum Geschlechterverhältnis in der Schweizer Filmbranche kritisiert das BAK außerdem das »Buddy-System«: »Im Filmschaffen herrscht eine große Solidarität zwischen Personen, die sich teilweise schon seit langer Zeit kennen«, heißt es. Da es sich dabei gerade bei den älteren Generationen noch viel häufiger um Männer handle, die mit anderen Männern bereits in diversen Projekten zusammengearbeitet hätten, würden Frauen hier in der Tendenz ausgeschlossen.

So kommt es, dass ausgerechnet Ivo Kummer, der die Filmtage 23 Jahre lang leitete und als Ziehsohn des Gründers Stephan Portmann galt, von seiner Kommunikationsstelle ausrichten ließ: Das BAK verlange, dass sich die Solothurner Filmtage in dieser Hinsicht neu aufstellten. »Und falls nötig [müssen sie] eine entsprechende Revision der Statuten in die Wege leiten«, so Kummer weiter. Allerdings wissen das BAK und der ehemalige Filmtageleiter Kummer schon lange von den Strukturproblemen. Bereits unter der vorherigen Direktorin Seraina Rohrer seien die Beschränkung der Amtszeit, die Rolle der Gründergeneration und die Männerdominanz ein Thema gewesen, sagt eine ehemalige BAK-Mitarbeiterin. Seraina Rohrer, die heute in der Geschäftsleitung von Pro Helvetia sitzt, der wichtigsten Kulturförderstiftung des Bundes, wollte sich nicht äußern. Der Übergangspräsident Geiser sagt: »Die Beschränkung der Amtszeit ist ein Thema, das wir angehen.« Tatsächlich hat der Vorstand bereits 2018 eine Beschränkung auf zwölf Jahre beschlossen. Trotzdem ließ sich Geiser nun nach 17 Jahren im Amt zum Übergangspräsidenten wählen.

Eine Rolle spielte dabei vermutlich ein Legat in der Höhe von 1,2 Millionen Franken. Damit, sowie mit Beiträgen von Stadt und Kanton Solothurn, wird der mit 60.000 Franken dotierte Prix de Soleure finanziert. Er sichert den Filmtagen wichtige Premieren. Der Stifter des Preises ist aber nur Insidern bekannt. Felix Gutzwiller sagt lediglich, er habe gehört, Übergangspräsident Geiser, der aus einer wohlhabenden Familie stammt, spiele bei diesem Legat eine Rolle. Geiser selbst will sich dazu nicht äußern, das sei vertraulich. Auch Kummer und der langjährige Solothurner Stadtpräsident Kurt Fluri schweigen. Aus dem Umfeld des Festivals heißt es: Wenn Geiser aus dem Vorstand austreten müsse, seien die Filmtage um eine Million Franken ärmer.

Die jurassische SP-Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider ist eines der Vorstandsmitglieder, das zurückgetreten ist; das andere war die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter. Baume-Schneider sagt, die Verbindungen zwischen manchen Leuten, die schon lange in Solothurn sind, seien für sie schwierig zu verstehen gewesen: »Für die Filmtage ist es eine Herausforderung, mit Leuten von außen zusammenzuarbeiten.« Thomas Geiser hingegen sagt: »Diese Aussage entbehrt jeder faktischen Grundlage.« Gemäß Gutzwiller hat ein Mitglied des Vorstands sogar gesagt, das Festival bräuchte gar keine künstlerische Direktorin, sondern bloß eine saubere Plattform, dann laufe es. »Das ist eine totale Fehleinschätzung«, sagt der bisherige Präsident. Geiser bestreitet auch diese Darstellung. »Der Vorstand hat einstimmig die Funktion einer künstlerischen Leitung beschlossen.«

Gegründet wurden die Filmtage im Geiste der 68er-Bewegung und entwickelten sich zu der wichtigsten Plattform für heimisches Filmschaffen. Heute ist dieses auch am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon oder am Zurich Film Festival zu sehen. Zudem fordert die Streamingkultur die ganze Branche heraus. Die Filmtage müssten sich also dringend neu erfinden.

Sven Wälti ist der Filmchef bei der SRG und damit einer der wichtigsten Geldgeber in der Branche. Er sagt, unter Hugis Leitung wirkten die Filmtage frischer, femininer, jünger und frankophoner als zuvor. Der Eröffnungsfilm flimmerte über alle Sender der SRG und erreichte statt der 900 Gäste wie zuvor 90.000 Zuschauer. Hugi habe die Basis geschaffen, sagt Wälti, Solothurn wieder als erste Adresse für Schweizer Erstlingswerke und den hiesigen Nachwuchs zu positionieren.

Woher kam also der Widerstand gegen Anita Hugi, wo sie doch gerade bewiesen hatte, wie das Festival auch künftig bestehen könnte? Als ihr Rausschmiss bekannt wurde und sich zahlreiche Branchenverbände mit ihr solidarisierten, schrieb die Enkelin des Filmtage-Gründervaters in einem inzwischen gelöschten Social-Media-Eintrag, Hugi wolle die »familiäre Geschäftsstruktur« des Festivals opfern. Felix Gutzwiller sagt, ein Teil des Geschäftsstellen-Teams habe sich gegen den Mix von Online- und physischen Veranstaltungen gestellt. Viele seien überfordert gewesen, aber in der Pandemie sei das fast normal. Anstatt die Direktorin zu unterstützen, habe sich ein Teil des Vorstands auf die Seite der Geschäftsstelle geschlagen. »Anita Hugi hat ein hohes Tempo eingeschlagen, sie wollte Probleme beheben, das Management in den Griff bekommen«, sagt Gutzwiller. Dazu gehört auch die personelle Entflechtung von Vorstand und Geschäftsstelle und vor allem eine Amtszeitbeschränkung. Für Geiser und Portmann seien diese Forderungen eine direkte Bedrohung, sagt Gutzwiller: »Sie würden Machtverlust bedeuten.« Geiser sagt, es sei der neu zusammengesetzte Vorstand gewesen, der diese Entflechtung in die Wege geleitet habe.

Beim BAK heißt es dazu vage: Es »sei zu überlegen«, ob eine Altersguillotine für gewisse Chargen sinnvoll wäre. Entscheiden wird darüber die neue BAK-Direktion. Isabelle Chassot wurde inzwischen für den Kanton Freiburg in den Ständerat gewählt.

Für die Solothurner Filmtage geht es längst um mehr. Das Budget beträgt drei Millionen Franken, eine knappe Million davon stammt von der öffentlichen Hand. 20.000 davon sind schon mal weg. Thomas Geiser sagt: »Die öffentliche Unterstützung ist in keiner Weise infrage gestellt.« Trotzdem stellt sich die Frage, wem das Festival dienen soll: dem Personal der Solothurner Filmtage oder dem Schweizer Film.

publiziert in DIE ZEIT, 12. November 2021

Einen Tag nach der Publikation des Artikels in der ZEIT beschliesst der Vorstand der Solothurner Filmtage: Sämtliche Reglemente werden überarbeitet, künftig gibt es für Vorstandsmitglieder eine Amtszeitbeschränkung von zwölf Jahren, eine Entflechtung zwischen Vorstand und Geschäftsleitung werde erfolgen. Thomas Geiser erklärt gegenüber der Solothurner Zeitung die bisherigen Strukturen seien «nicht mehr optimal» gewesen.

Zwei Wochen nach dem Artikel in der ZEIT kommen die Solothurner Filmtage und Anita Hugi unter Vermittlung des Bundesamtes für Kultur zu einer Einigung. Das Arbeitsverhältnis wird in gegenseitigem Einverständnis beendet.