Zum Inhalt springen

Geniale Freundinnen: Zehn Gründe, warum man Elena Ferrante lesen muss

Diese Woche erscheint der vierte und letzte Band von Elena Ferrantes neapolitanischem Epos. Wir verraten Ihnen, weshalb Sie die Geschichte der ungleichen Freundinnen lesen müssen.

1 Die Frauenfreundschaft

Über vier Bände hinweg porträtiert Elena Ferrante eine Frauenfreundschaft. Trotz der unterschiedlichen Lebenswege, der ungleichen sozialen Milieus, wechselnder Wohnorte, Liebhaber, Ehemänner und sogar ihren Kindern bleibt diese Beziehung die wichtigste im Leben der Figuren Elena und Lila. Damit betritt Ferrante neues Terrain.

Und: Die Freundschaft entspricht nicht den gängigen Klischees. Ferrante schreibt von der grossen Zuneigung bis hin zur wechselseitigen Abhängigkeit, aber auch von Konkurrenz, Eifersucht und Neid. In ihren dunkelsten Momenten wünscht Elena der Freundin den Tod. Und einmal wirft sie ihr anvertraute Fragmente mit Lilas Texten in den Fluss.

2 Der Gesellschaftsroman

Als Messlatte für den Erfolg gilt in den USA gemeinhin die «Great American Novel». Nun, Ferrante hat einen grossen europäischen Roman geschrieben – aus weiblicher Perspektive. Ferrantes neapolitanisches Epos beginnt in den 1950er-Jahren und erstreckt sich bis in die Gegenwart. Es beginnt im begrenzten Raum des neapolitanischen Stadtteils Rione und weitet sich aus zunächst auf den Norden Italiens, auf Europa und schliesslich auf Übersee. Die Zeitgeschichte fliesst in den Roman ein.

Aber: Ferrante nennt nur wenige Eckpunkte der äusseren Umstände. Sie zeigt diese von innen heraus, wie sie in ihre Figuren hineinwirken und wie sie sich in ihren Handlungen äussern, in ihren Gesten, in ihren Entscheidungen. In ihrem Innenleben wandeln sich die Figuren im Lauf der Zeit.

3 Die Mütter und Töchter

Die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern haben eine hohe Bedeutung in Ferrantes Werk. Sie zeichnet sie aber als komplexe Erfahrung von grosser Ambivalenz. Die Schwangerschaft beschreibt sie beispielsweise als «ein Stück Fleisch», das im Innern der Mutter heranwächst, bei der Geburt im Kampf von widerstrebenden Kräften aus dem Körper ausgestossen wird und dann ausserhalb des Mutterkörpers weiterwächst. Ein drastisches Bild.

Ihre Figuren tun sich schwer mit der Schwangerschaft, mit der Erziehung der Kinder, mit ihrer Sexualität. Das hat literarische und politische Gründe. Ferrante bemüht sich in ihrem Schreiben um grösstmögliche Authentizität. In den wenigen schriftlich geführten Interviews, die es von ihr gibt, sagt sie aber auch, die vorherrschenden idealisierenden Darstellungen der Mutterschaft würden bei Frauen Schuldgefühle hervorrufen, sobald sie mit deren frustrierenden Seiten konfrontiert sind.

Auch zu weiblicher Sexualität müsse eine eigenständige literarische Tradition erst noch erfunden werden. Elenas und Lilas Verhalten seien zwei unterschiedliche Arten von Anpassung an Männer und deren Sexualität.

4 Die Stadt Neapel

Elena Ferrante ist in Neapel aufgewachsen. Die Stadt ist für sie «eine Erweiterung des Körpers, eine Wahrnehmungsmatrix und der Vergleichswert für alle anderen Erfahrungen», sagt sie. Dem Neapel ihrer Kindheit fühlte sie sich fremd, sie erlebte es voller Abscheu. Als sie die Stadt verliess, nahm sie dieses Neapel mit, «als Surrogat, das mich immer daran erinnern würde, dass die Kraft, die im Leben steckt, beschädigt wird, gedemütigt von ungerechten Existenzweisen».

Neapel erscheint in ihren Büchern wie ein fast lebender Organismus. Ein Ort, der mit seiner morbiden Schönheit die Zeichen eines Verfalls in sich trägt, der sich mit den Jahren ausgeweitet und verstärkt hat. Aber auch ein Ort von grosser Menschlichkeit und kulturellem Reichtum.

5 Der Feminismus

Sind Elena Ferrantes Bücher feministisch? Ja und nein. Man kann sie mit den Werkzeugen der feministischen Literaturkritik analysieren. Und Ferrante sagt von sich, dass sie sich intensiv mit feministischem Gedankengut auseinandergesetzt habe. Ideen von Autorinnen wie Simone de Beauvoir, Luce Irigaray oder Judith Butler und vielen anderen hätten ihren Standpunkt neu geformt.

Unter den verschiedenen feministischen Strömungen bekennt sie sich zu einem Feminismus, der die Verschiedenheit von Männern und Frauen betont. Ihre Literatur will sie aber nicht als Umsetzung einer Ideologie verstanden wissen. Ein solcher Text wäre tot.

6 Der weibliche Roman

Ferrante erzählt, als Kind sei sie überzeugt gewesen, ein gutes Buch müsse einen männlichen Protagonisten haben. Es störte sie, und doch blieb sie lange der Meinung, die grössten Autoren seien Männer und wer gut erzählen wolle, müsse schreiben wie sie, wie Defoe, Flaubert, Tolstoi oder Dostojewski. Die Bücher der wenigen weiblichen Vorbilder, Jane Austen oder die Schwestern Brontë, schienen ihr zu dünn.

Später erkannte sie, dass die Bedeutung dieser Autorinnen darin lag, eine weibliche Tradition überhaupt erst einmal zu begründen. Feministisches Gedankengut hat sie, wie sie sagt, «erwachsen» gemacht und sie dazu geführt, von ihrem eigenen Geschlecht und dessen Verschiedenheit zu erzählen. Um dabei aber mindestens so gut wie Männer zu sein, ist sie überzeugt, braucht es Authentizität, tiefes Eintauchen in das eigene, innere Erleben und grösstmögliche Nähe.

7 Das Pseudonym

Als Elena Ferrante ihren ersten Roman, «L’amore molesto», publizierte, entschied sie sich 1991 dafür, den Roman mit einem Pseudonym zu zeichnen. Ferrante will ihr Werk für sich selbst sprechen lassen, ihre ganze Identität sei im Text, sagt sie. Dieser Entschluss hat zu Spekulationen geführt, wer hinter dem Werk stehen könnte. Interessanterweise wurden mehrere Namen von angesehenen Männern herumgereicht, bis hin zur Idee, die Bücher müssten von einem ganzen Männerteam geschrieben sein.

2016 verkündete ein italienischer Journalist, er habe die Identität aufgedeckt. Er war den Honorarzahlungen ihres italienischen Verlages gefolgt, der Spur des Geldes. Ferrante und ihr Verlag verurteilten diese Nachforschungen. Anderweitig hat sich Ferrante nicht dazu geäussert. Der Erfolg ihrer Bücher ist ein Triumph für sie und ihren Entscheid und für die Kunst.

8 Die politische Kraft

Ein berühmter Slogan der zweiten Welle der Frauenbewegung lautete: «Das Private ist politisch.» Im vierten und letzten Band des neapolitanischen Quartetts rückt diese Haltung in den Vordergrund. Die Handlung findet wieder stärker im privaten Raum statt. Es ist ein Ausdruck der Zeit, in der dieses Buch spielt. Macht und ihre Anwendung wirken weit über den öffentlichen Raum hinaus in die intimsten Angelegenheiten hinein, das zeigt Ferrante in ihren Romanen. Dass das Private politisch ist, fordert sie von jeder Form von Literatur.

9 Die Serie

Zwei von Elena Ferrantes bisherigen drei veröffentlichten Romanen wurden bereits verfilmt. Eine Verfilmung des neapolitanischen Quartetts, koproduziert von HBO und RAI, ist in Gang. Die Serie besteht aus 32 Teilen und soll im kommenden Jahr weltweit ausgestrahlt werden. Kinder ohne Schauspielerfahrung, häufig aus sozial benachteiligten Verhältnissen spielen die Rollen von Lenù und Lila und den Freundinnen und Freunden ihrer Kindheit.

10 Die Kunst

Im vierten und letzten Band der Reihe mit dem Titel «Die Geschichte des verlorenen Kindes» mehren sich fantastische Elemente, die von Anfang an in den Büchern angelegt waren. Die zwischen grosser Nähe und Neid pendelnde Beziehung der Freundinnen wird zu einem Bild, das in der Literatur, in der Kunst aufgeht.

Elena und Lila haben das Potenzial, sich von den Seiten des Buches zu lösen und als symbolische Figuren in das kollektive Bewusstsein einzugehen – wie einst Madame Bovary von Gustave Flaubert, Anna Karenina von Leo Tolstoi oder Jane Eyre von Charlotte Brontë. Allerdings: Nicht als einzelne Figuren, sondern als eine Identität – vermischt mit der ihrer Autorin Elena Ferrante.

publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 27. Januar 2018, Bild©ass