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«Kunst entsteht aus Konsequenz»

Seit mehr als zehn Jahren lässt er in seinen Geschichten eine schwindende Welt aufs Schönste aufleben und schreibt mit immer neuen Figuren seine Bündner Comédie humaine fort: Arno Camenisch 

«Morgens Tennis, am Abend die Bühne, so sieht ein perfekter Tag aus.» Wir sitzen in einem Café hinter dem Tennisplatz am Bielersee, gerade hat er eine Stunde gespielt. An diesem Morgen ist es gut gelaufen. Beim Tennis könne man gut punkten, sagt er, der Wettkampf, das liege ihm. Und wenn er einen Ball verhaue, dann bringt er den nächsten sicher ans Ziel.

Arno Camenisch ist in seinem Element. Er lässt den verschmitzten Jungencharme spielen, erzählt, in melodischem Bündner Singsang, die Stimme sonor, rauh, dazwischen immer wieder sanft und weich — immer auf der Kante, so wie es auch seine Geschichten sind. 2009 hat er sein Debüt gegeben, mit «Sez Ner», das auf Deutsch und auf Rätoromanisch vom Leben auf der Alp erzählt, eine Folge kurzer Szenen, roh und voller Poesie. Gleich zu Beginn lässt er den Senn, Chef auf der Alp, mit dem Gleitschirm in den Tannenwipfeln hängen, und der Schweinehirt schmeisst den aufgeblähten Käse ins Gülleloch.

Auch seine nachfolgenden Bücher erzählen von seiner Heimat in der Surselva, «Hinter dem Bahnhof» von der Kindheit im Dorf und «Ustrinkata» vom letzten Abend in der Dorfbeiz, bevor sie für immer schliesst. Die Bündner Trilogie hat er zu einer Bündner Chronik geweitet, der er immer neue Figuren und Geschichten zufügt. Soeben erschienen ist sein jüngstes Buch, «Goldene Jahre». Es ist das achte Buch, das in dem Tal spielt. 

Eine eigene Welt erschaffen

«Ich mache einfach, Schritt für Schritt, immer weiter, genauso, wie es für mich stimmt», sagt Arno Camenisch, jetzt ernst und überlegt. Nach Jahren in Chur, in Madrid und auf Reisen lebt der Autor seit dem Studium am Schweizerischen Literaturinstitut und der Geburt seiner Tocher seit dreizehn Jahren in Biel. In der Surselva hat er den Anker für seinen literarischen Kosmos gefunden: «Dort ist mein Herz».

Der 42-Jährige hat seinen eigenen Stil entwickelt, eine klare Handschrift, die er von Buch zu Buch variiert — was ihm einige Kritikerstimmen vorwerfen. Doch Forderungen nach Neuem lässt er an sich abperlen. Er lacht. «Wenn man sich an Erwartungen von anderen orientiert, ist es finito», erklärt er, «Kunst entsteht aus Konsequenz». 

«Wenn man sich an Erwartungen von anderen orientiert, ist es finito.»

Massstab sind ihm Künstler wie Pina Bausch, Roman Signer oder Alberto Giacometti, die sich treu geblieben sind. «Sie hatten Visionen, haben Welten erschaffen.» Besonders Giacometti fasziniert ihn: die Augen seiner Figuren, die Dichte, die maximale Konzentration — und die tiefe Verbundenheit mit der Heimat im Bergell. Er erzählt von Giacometti, wie er aus Paris zu einem Gespräch über eine geplante Ausstellung nach Zürich kam und aus dem Hosensack eine Zündholzschaltel mit seinen jüngsten Werken hervorholte, worauf ihn die Kuratoren gleich wieder hätten ausladen wollen. 

Camenisch legt die Latte hoch: Eine eigene Welt will auch er erschaffen, mit jedem Buch soll sie grösser werden. «Bei jedem Buch überlege ich mir, wie ich mein Schreiben weiterentwickeln kann.» Jedes Buch habe eine andere Farbe, eine andere Energie, einen anderen Fokus. Im März 2019 überschlug es ihn beim Skifahren, er brach sich zwei Rückenwirbel, er hätte tot sein können. Seither spielt er Tennis, um den Rücken zu kräftigen. Seither fühlt er sich nochmal bestärkt: «Ich erzähle das, was ich zu erzählen habe».

Mensch im Zentrum

Vielleicht liegt es an dem Unfall, dass «Goldene Jahre» so lebensbejahend ist. Vielleicht liegt es am Tod seines Vaters im August des vorangehenden Jahres, dass sein vorangehendes Buch «Herr Anselm» eine melancholische Färbung hat. Wie seine Bücher entstehen, darüber will Camenisch nicht reden. «Das ist etwas Intimes», sagt er. Alle seine Bücher hätten mit ihm zu tun, doch was er mit der Öffentlichkeit teilen wolle, stecke im Text. «Im Zentrum steht immer der Mensch mit seinen Freuden, Ängsten, der Liebe, den Zweifeln». 

Vordergründig passiert fast nichts: In «Der letzte Schnee» warten die Figuren Paul und Georg am Bügellift auf Gäste, die nicht mehr kommen, in «Herr Anselm» pflegt der Abwart der Schule das Grab seiner verstorbenen Frau, in «Goldene Jahre» richten Rosa-Maria und Margrit ihren Kiosk mit der Zapfsäule, derweil die Umfahrungsstrasse längst die Kunden am Dorf vorbei lenkt. Der schwindenden Welt setzt der Autor die Unsterblichkeit der Geschichten entgegen. Er lässt seine Figuren reden, formt sie fast ausschliesslich aus ihren Erinnerungen heraus. Voller Magie leben sie auf, wenn er sie auf der Bühne Gestalt werden lässt. 

Noch vor dem Start der eigentlichen Tournee mit dem neuen Buch probt der Autor sein Bühnenprogramm in einem ersten Gig auf einer improvisierten Sommerbühne an der Berner Aare. Wieder die sonore, raue Stimme, die ins Weiche kippt, der Bündner Singsang klingt in seinem Deutsch nach: Ganz der Performer hat Camenisch das Publikum sofort im Sack. 

Mit den typischen dialektalen Einsprengseln verweben Rosa-Maria und Margrit ihre Erinnerungen, dazwischen flicht Bühnenpartner Roman Nowka an der Gitarre Klangschlaufen, in denen sich Glück und Wehmut die Waage halten. Die Landung auf dem Mond, die Tour de Suisse auf den Pass, der Lottogewinn und immer wieder die Liebe: Griffe nach dem Leben — selbst wenn «die Amore» nach spätestens acht Wochen vorbei ist, wie die beiden aus ihren Kioskheftli wissen.

Finessen im Text

«Sprache ist wie ein Gestus», sagt Arno Camenisch. Als Kind war er still, ja, sogar schüchtern. Ein Junge, der jede freie Minute auf den Ski stand, tschuttete oder sich in harten Sommermonaten auf der Alp das Geld für ein Velo verdiente. 

«Die Bühne ist ein Flash, da gilt das Tempo, da chlöpfts, beim geschriebenen Text geht es um die Finessen.»

Erst mit etwa 17 Jahren hat er die Freude an der Sprache entdeckt. Mit Freunden improvisierte er gerappte Vierzeiler auf Romanisch und erfand in der Surselva Spoken Word noch bevor die dritte Mundartwelle der Schweizer Literatur neuen Schwung verpasste. «Bern ist überall» heisst die lose Formation, die in den Nullerjahren von Bern aus die Literatur auf die Bühne brachte. Camenisch gehörte ihr während sieben Jahren an. 

Doch ihm sind seine Bücher genauso wichtig wie die Performance: «Die Bühne ist ein Flash, da gilt das Tempo, da chlöpfts, beim geschriebenen Text geht es um die Finessen». Mit Urs Engeler, seinem Lektor und Verleger der ersten Stunde feilt er ausgiebig an Details, damit die Dynamik stimmt. Urs Engeler liebt es, dem Autor beim Lektorieren dessen Texte vorzulesen, weil sie überraschende Bögen und Sprünge machen. Arno Camenisch schreibe frisch und anschaulich, sagt er. «Was mir besonders gefällt, ist der Klang und der ebenso krumme wie gerade Gang seiner Sprache.» 

Krumm und gerade sind auch seine Figuren, eine Welt voller kauziger, schräger, halb tragisch, halb komischer Gestalten, alle eigenwillig, aber immer liebenswert, in der Heimat verwurzelt und doch universell: Buch für Buch erzählt Arno Camenisch mit ihnen davon, wie der Gang der grossen Welt die Welt der kleinen Menschen berührt und lässt in seiner Sursilvaner Comédie humaine die Vergangenheit aufs Schönste aufleben.

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Jeden Tag stehen die beiden beim Bügellift: Der Paul und der Georg wären «parat», doch «der weisse Pulver» bleibt aus, und mit dem fehlenden Schnee fehlen auch die Gäste. Davon lassen sich die beiden nicht beeindrucken. Auch der Bügellift, einst Talentschmiede des Dorfes, rattert unermüdlich weiter, Sinnbild für den Leerlauf ebenso wie für den Lauf der Zeit. Um das Warten zu verkürzen, schwingt sich der eine von Anekdote zu Anekdote, während der andere stoisch in ein Journal protokolliert. Zwei Figuren, die vage an Samuel Beckets «Warten auf Godot» erinnern. 

Die existenzielle Verlorenheit und der Trost, das Verschwinden und das Wiederaufleben in der Sprache — mit philosophischem Tiefgang bringt Arno Camenisch in seinem sechsten Buch aus der Surselva sein Lebensthema zum Höhenflug: «Der letzte Schnee» (2018) ist sein erfolgreichstes Buch, es stand 24 Wochen auf der Schweizer Bestsellerliste.

Arno Camenisch: «Der letzte Schnee», Engeler, 104 Seiten

publiziert in der Serie «Schweizer Schreibwelten» auf swissinfo.ch am 8. Juli 2020, Foto ©Thomas Kern/swissinfo.ch