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Die Gründeridee der Solothurner Literaturtage

Die Solothurner Literaturtage gehen in die 38. Runde. In den späten 1970er-Jahren wurde der Anlass von Autoren für Autoren gegründet. Darauf beruft sich die Organisation immer noch. Wie passt das in die heutige Zeit?

Die Idee entstand 1978. Peter Bichsel, Otto F. Walter, Fritz H. Dinkelmann und Rolf Nieder­hauser sassen miteinander im Solothurner Kreuz. Plötzlich kam der Gedanke auf: Wie wäre es, wenn wir für die Literatur etwas Entsprechendes wie die Filmtage auf die Beine stellen würden? Einer in der Runde war allerdings dagegen. Peter Bichsel monierte die «provinzielle Hysterie», die die solothurnischen Beteiligten jeweils erfasste, wenn während der Filmtage die «richtige Welt» nach Solothurn kam. Schreiben sei ein viel einsameres Geschäft als das Filmen. Er fürchtete, dass sich die «einsamen Wölfe Einzelkämpfe liefern würden». Doch erleichtert bilanzierte er 2003 zum 25-Jahr-Jubiläum: «Sie taten es nicht. Die Literaturtage wurden zu einer leisen und stillen Veranstaltung.»

Von Autoren für Autoren

Dass es so etwas wie eine Schweizer Literaturszene überhaupt gibt, ist zu einem grossen Teil den Literaturtagen zu verdanken. Idee der Gründer war es, einen Ort zu schaffen, wo sich die Szene treffen, austauschen und einem Publikum vorstellen konnte. Herzstück war dabei die sogenannte Werkschau, eine Auswahl der Texte des zurückliegenden Literaturjahres. Und heute? Reina Gehrig spricht sich dafür aus, «den Gründergedanken in die heutige Zeit zu übersetzen». Sie hat vor drei Jahren interimistisch die Geschäftsführung übernommen und ist dieses Jahr erstmals alleinige Geschäftsführerin der Literaturtage.

In den letzten rund zwanzig Jahren wurde neben den Solothurner Literaturtagen eine Vielzahl weiterer literarischer Anlässe ins Leben gerufen. So gibt es heute in Basel, Zürich, Bern, Luzern und jüngst auch in Locarno je ein Literatur- und ein Lesefest, hinzu kommt der auf die französischsprachige Literatur ausgerichtete Genfer Salon du Livre. Die kleine Buchmesse Olten hingegen hat nach zehn Ausgaben soeben das Ende der Aktivitäten bekannt gegeben. Aber auch die Literaturhäuser Zürich (seit 1999), Basel (seit 2000) und Aarau (seit 2004) bieten Lesungen an, das Zürcher Kaufleuten mit der Programmreihe Züri Littéraire (seit 1985) und der L-Reihe (seit 2002) mit internationalen Literaturstars und Buchhandlungen, Bibliotheken sowie anderen Kleinveranstaltern. Nicht zu vergessen, das Literaturfestival Leukerbad, das letztes Jahr sein 20-Jahr-Jubiläum feierte.

Gelegenheiten, Autoren an einer Lesung zu hören, gibt es also viele. Darüber freut sich Reina Gehrig: «Lesungen sind zu einer wichtigen Einnahmequelle für Autoren geworden.» Sie stört sich auch nicht daran, dass die meisten grossen Schweizer Autoren wie dieses Jahr etwa Charles Lewinsky, Catalin Dorian Florescu, Franz Hohler oder auch die letzten Herbst für den Schweizer Buchpreis nominierte Dana Grigorcea ihre Bücher bereits vorgestellt haben. «Neben den Lesungen sind an den Literaturtagen die Diskussionen zentral.» So gibt es in Solothurn die Reihe «Autoren im Dialog», in der etwa Charles Lewinsky und Sacha Batthyany oder Adolf Muschg und Feridun Zaimoglu miteinander diskutieren, es gibt Zukunftsateliers über die Perspektiven von Buch und Text und diverse Podien. Die Formate sind es denn auch, bei denen Reina Gehrig neben den jeweils neuen Texten Potenzial sieht, den Gründer­gedanken in die heutige Zeit zu übertragen.

Keine Publikumsmagneten

Wer das diesjährige Programm anschaut, vermisst jedoch Publikumsmagnete, die andere Leute als per se Literaturinteressierte nach Solothurn führen könnten. Eine Steilvorlage hätte beispielsweise der junge Genfer Joël Dicker geliefert. Er war wie ein Komet am Literaturhimmel aufgestiegen. Just dieser Tage erscheint sein erstes Buch nach dem gigantischen Erfolg vor drei Jahren. Zu populär für eine Buchpremiere in Solothurn? «Wir entscheiden uns nicht gegen ein Buch oder gegen einen Autor», sagt Reina Gehrig. «Wir haben uns für acht Fran­zösisch sprechende Autoren entschieden, deren Texte uns mehr überzeugt haben.»

Aber auch Rolf Lappert, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, Monique Schwitter, Gewinnerin des letztjährigen Schweizer Buchpreises, oder Peter Stamm sucht man im Programm vergeblich, im vergangenen Jahr vermisste man Martin Suter. Und unter den ausländischen Gästen finden sich kaum Namen, die einem breiteren Publikum bekannt sein dürften, jedoch generell eher intime, literarische Texte. Gehrig winkt ab: «Zugpferde vertragen sich nicht mit der Idee der Werkschau.» Solothurn stehe dafür, dass man an den Literaturtagen Entdeckungen machen könne.

Abonnierte Autoren

Bekannte Namen gibt es in Solothurn allerdings schon. Es sind die Säulenheiligen, die auf den Anlass abonniert zu sein scheinen. So sind am Freitagabend im Hauptsaal Adolf Muschg und Lukas Bärfuss programmiert. Dabei hat Bärfuss gar kein neues Buch. Sein angekündigter Roman wurde auf den Herbst verschoben, doch Bärfuss, der als Nachfolger von Max Frisch gehandelt wird, darf trotzdem zur Primetime lesen. Er präsentiert noch unver­öffentlichte Texte. Und zum Abschluss der Literaturtage am Sonntag gehört die Bühne Franz Hohler. Sympathieträger Hohler publizierte letzten Herbst lediglich den schmalen Sammelband «Ein Feuer im Garten» mit nur teils neuen Texten.

Welche Autoren nach Solothurn geladen werden, bestimmt die zehnköpfige Programmkommission, deren Mitglieder im Dreijahresturnus wechseln. De facto kommen die Einladungen einer Aufnahme in die geweihten Reihen der Schweizer Literatur gleich. Entsprechend versteht sich die auf der Website der Literaturtage neu aufgeschaltete Archivdatenbank auch als «Spiegel der neueren Literaturgeschichte der Schweiz». Insbesondere für Nachwuchsautoren haben die Einladungen die Funktion eines Ritterschlags. Wobei sich Reina Gehrig gegen eine solche Auslegung wehrt: «Das wäre ja ausschliessend. Die Literaturtage sollen ein niederschwelliger Anlass sein. Es kommen jeweils viele Autoren, selbst wenn sie nicht eingeladen sind.»

Die Auswahl der Autoren hänge von den Mitgliedern der Programmkommission ab, betont Gehrig. «Sie entscheiden, ob ein Text literarisch qualitativ überzeugt.» Gehrig ist gleichberechtigter Teil des kuratierenden Gremiums. «Eigene Akzente setzen kann ich allenfalls im Rahmenprogramm», sagt sie.

Ansonsten ist die Geschäftsführerin für den operativen Bereich zuständig. Vor drei Jahren, nach der Pensionierung der langjährigen Geschäftsführerin und nach einem einjährigen Intermezzo sowie einem Abgang mit viel Getöse wurden die Strukturen der gewachsenen Organisation entflochten.Organisatorisch haben sich die Literaturtage einer Auffrischungskur unterzogen. Im Umfeld von Konkurrenz und schwindendem Leseinteresse würde dem jährlichen Szenetreffen auch eine inhaltliche Öffnung und Auffrischung guttun.

publiziert in AZ Nordwestschweiz am 4. Mai 2016