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Die Störerin

Simone Lappert ist die Aufsteigerin der Literatursaison. Mit ihrem zweiten Roman ist sie beim renommierten Diogenes Verlag gelandet. Wie hat sie das geschafft?

Die Türen zum Café sind weit offen, von der Bar her zischt und faucht die Kaffeemaschine. An einem der Tische sitzt Simone Lappert und schreibt in ein Notizbuch. Sie schaut auf. Ungeschminkt und in einem langen Sommerkleid.

Das Volkshaus am Helvetiaplatz ist für sie das gefühlte Zentrum ihrer neuen Stadt, Lappert wohnt erst seit Kurzem in Zürich. Es ist auch der erste Ort, der mit einer persönlichen Erinnerung aufgeladen wurde. Mitte Juni erlebte sie hier den Frauenstreik: «Der Protest war überwältigend. Ein Doppelpunkt. Jetzt muss etwas folgen», sagt Lappert.

Die Spannung, das Flirren, das damals in der Luft lag, erinnert an die Ausgangslage ihres neuen Romans. Der Sprung erzählt von Manu, einer jungen Frau, die auf dem Dach eines Mietshauses steht, während sich auf dem Platz davor die Schaulustigen versammeln, mit dem Handy Fotos machen, Filme drehen oder zu ihr hochrufen: «Spring doch, du Weichei, mach doch!» Oder auch: «So jemanden sollte man erschießen.» Der Roman fusst auf einer realen Geschichte, die sich in der Schweiz abgespielt hat und von der die Autorin erfahren hatte. Sie sprach später mit einer Angehörigen. Diese stand damals in der Menge und musste die teils abschätzigen Kommentare über die geliebte Person mithören.

Oben ein tief verzweifelter Mensch, unten eine zynische Meute. Die Brutalität dieser Situation hat Lappert nicht mehr losgelassen. Was passiert mit der eigenen Empathie in einem solchen Moment? Woher kommen diese Aggressionen? Und was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Nach einer Kurzgeschichte, die nah am realen Ereignis blieb, entschied sich Simone Lappert, der, wie sie es nennt, «Überforderungsdynamik» in der Fiktion nachzuspüren. Elf Figuren sind es, denen sie im Roman folgt: Etwa dem Polizisten, der für den Kriseneinsatz abkommandiert wird, der Frau, die den Vorfall der Polizei meldet, dem Freund von Manu auf dem Dach oder den Ladenbesitzern, die dank der Schaulustigen das Geschäft ihres Lebens machen.

Zunächst liest sich das Buch wie eine Sammlung von Kurzgeschichten, bis man Details wiedererkennt und allmählich realisiert: Die Ausschnitte aus verschiedenen Lebenswelten einzelner Figuren verweben sich zum Panorama einer Kleinstadt. Es ist ein sorgfältig gebauter Plot, mit Schwung erzählt. Das passt gut zu ihrem neuen Verlag, der darauf setzt, dass sich seine Bücher auch tatsächlich verkaufen. Und es unterscheidet die junge Autorin von anderen Abgängern des Literaturinstituts in Biel, wo sie studiert hat, mit ihren oft sperrigeren oder entrückten Werken.

Simone Lappert schreibe mit grossem erzählerischem Atem, Herz und Humor, sagt ihre Lektorin Margaux de Weck. Die junge Autorin kam eher zufällig zu Diogenes: Weil ihr ehemaliger Verlag Metrolit eingestellt wurde, hat man sie an Diogenes weiterempfohlen. Sie war damals gerade im Rahmen eines Stipendiums in New York und schrieb an ihrem Roman, als der Verleger Philipp Keel anrief. Mit Der Sprung ist Simone Lappert im Hause von Friedrich Dürrenmatt, Hugo Loetscher, Urs Widmer, Martin Suter und Charles Lewinsky untergekommen, in einem der grössten Literaturverlage im deutschsprachigen Raum – als erste Schweizer Romanautorin.

Wenn Simone Lappert von ihren Figuren erzählt, klingt es fast, als rede sie von echten Personen. Anfangs habe sie ein Bild von ihnen, sagt sie, einen ersten Eindruck, wie wenn man jemanden neu kennenlerne. Mit der Zeit vertiefe sich die Beziehung, werde komplexer – oder ändere sich. «Schön ist es, wenn meine Figuren ein Eigenleben entwickeln und mich beim Schreiben überraschen.» Manchmal würden sie sich sträuben, sagt Lappert und lacht hell. Andere Male spüre sie, dass sie einer Figur noch weiter folgen wolle. So war es zum Beispiel bei dem Hutmacher Egon, der sein Geschäft aufgeben musste und im Roman zunächst nur einen kleinen Auftritt hatte. Über diese und andere Figuren kreist Lappert ihre Hauptfigur Manu immer enger ein, bis sie sich gegen Ende wieder von ihr entfernt. Wer die junge Frau ist und weshalb sie auf dem Dach steht, bleibt ungewiss, sie ist das Auge des Orkans. Simone Lappert hat sich bewusst dazu entschieden: «Ich wollte Manu keine Deutungshoheit geben.» Würde das Buch die offenen Fragen beantworten, wäre das eine Besänftigung, die Lappert so nicht will. «Zu beruhigen ist nicht die Aufgabe der Kunst.»

«Das ist wie Tonleitern üben»

Bevor Lappert schreibt, recherchiert sie an den Lebensläufen ihrer Figuren entlang. Sie traf einen Kurier, der Schweineaugen transportiert, stellte sich auf ein Dach oder redete mit dem Polizisten einer Sondereinheit. «Der Polizist wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn er wüsste, wie der Einsatz im Buch abläuft», sagt sie. Und wieder dieses helle Lachen. Sie muss einen Sachverhalt genau kennen, nimmt sich dann aber die Freiheit, etwas Eigenes daraus zu machen. Manchmal spielt ihr dabei der Zufall in die Hände, sie sucht etwas und findet etwas ganz anderes. «Kennen Sie das, die Serendipität?», fragt sie und spricht den wissenschaftlichen Begriff für dieses Phänomen mit grosser Sorgfalt aus.

Manchmal festigt sich bei der Recherche auch etwas, von dem sie zuvor nur eine vage Ahnung gehabt hatte. So war es, als sie mit einem Biologen durch Zürich ging, um mehr zu erfahren über Pflanzen im urbanen Raum, was wo wächst und welche Lebensbedingungen die Pflanzen brauchen. Bei einem verödeten Grasflecken in der Nähe des Römerhofs habe der Biologe ihr die «Hypothese der mittleren Störungsintensität» erklärt. Wird ein Lebensraum zu häufig und zu stark gestört, schadet das der Vielfalt, aber dasselbe passiert, wenn der Lebensraum ganz sich selbst überlassen wird. Wird der Lebensraum jedoch hin und wieder ein bisschen aufgeraut, kann sich die Natur am besten entfalten. «Das ist eine schöne Metapher auf das Leben. Und es ist eine schöne Metapher auf die Rolle der jungen Frau im Buch.»

Simone Lappert erzählt offen, schnell und viel, immer wieder legt sie nach und schärft das Gesagte. Klingt da die Lyrikerin durch?

Bei der Publikation ihres Debüts Wurfschatten vor fünf Jahren, das von einer inneren Auseinandersetzung mit einem Alphabet der Ängste erzählt, wurde sie primär als Dichterin verstanden. «Ich bin so verstanden gemacht worden», kontert sie sofort. Lyrik und Prosa seien für sie gleich wichtig.

Auch in ihrem neuen Roman gibt es lyrische Passagen, zum Beispiel wenn sie gleich zu Beginn den freien Fall von Manu beschreibt, die sich nach stundenlangem Warten vom Dach stürzt: «Nun fällt sie, fällt schnell, Adrenalin flutet ihre Kapillaren mit Hitze, (…) und alles dreht sich, während sie fällt, alles weitet sich in ihr, ihre Poren weiten sich und ihre Zellen, ihre Adern, ihre Gefässe, alles öffnet sich, schreit, sperrt sich auf, bevor es sich wieder zusammenzieht, ihr ganzer Körper eine Faust jetzt, die sich nach unten boxt und die Umgebung mitreisst (…).»

Der Moment löst sich in Formlosigkeit auf – in einem Roman, der alles andere als formlos ist, sondern bewusst komponiert und in einer detailtreuen Sprache. Es ist eine Sprache, die sich nicht aufdrängt, die Leserin aber sofort gefangen nimmt und mit den Figuren mitfühlen lässt.

Geschrieben hat die heute 33-Jährige, seit sie lesen kann und im Büro ihres Vaters im ländlichen Aargau erste Geschichten in dessen Computer getippt oder ihren beiden jüngeren Geschwistern frei erfundene Geschichten erzählt hat. Eine Tradition, die sie von ihrem Vater übernahm. Erst nach dem Studium am Literaturinstitut hat sie so richtig realisiert, dass sie nun etwas Ähnliches macht wie ihr Onkel und Götti, der Schriftsteller Rolf Lappert, der mit dem Roman Nach Hause schwimmen den ersten Schweizer Buchpreis gewonnen hat. Auch er versorgte sie als Kind mit Geschichten und Lesestoff. Und selbst wenn sie bisher noch nie Manuskripte voneinander gelesen haben, tauschen sie sich aus, erzählen einander von ihren Ideen und interessieren sich für die Arbeit des anderen.

«Schreiben schult die Wahrnehmung», sagt Simone Lappert. Sie selbst macht sich immer wieder Notizen, vergegenwärtigt sich Beobachtungen und versucht, diese mit allen fünf Sinnen festzuhalten. «Das ist wie Tonleitern üben», sagt sie. «Achtsamkeitsübungen könnte man es auch nennen, aber das ist so ein In-Wort.»

Simone Lappert: Der Sprung, Diogenes Verlag, 336 S.

Publiziert in Die Zeit Schweiz am 22. August 2019, Bild © Ayse Yavas