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Es ist zu früh für die Opferrolle des Mannes

Zum internationalen Tag der Frau am 8. März schreibt Anne-Sophie Scholl über Alltagssexismus, was sich seit #MeToo geändert hat und wie Medien selbst die Geschlechterfrage handhaben — hier und heute in der Schweiz

In meiner Arbeit als Literaturredaktorin treffe ich mich hin und wieder mit Autoren in einem Café. So auch jüngst wieder: Ich hatte nach einem Tisch gefragt, ich hatte darum gebeten, die Musik leiser zu stellen, ich hatte die Bestellung aufgegeben, ich hatte die Rechnung verlangt. Die Rechnung kam, sie landete bei meinem Gast, direkt unter seiner Nase. Der Mann war jünger als ich.

Regelmässig wird mir so verunmöglicht, meine Interviewpartner ganz selbstverständlich als meine Gäste einzuladen. Das ist bezeichnend für das Grundraster einer ganzen Reihe von Erlebnissen, die mein Leben geprägt haben – Begrapschungen als Jugendliche, Konfrontationen mit Exhibitionisten, Stalking, sexuelle Übergriffe à la #MeToo in der Ausbildungszeit und Vergeltungsmassnahmen, ab etwa dreissig dann Rückstufungen vermehrt ohne sexuelle Aspekte: Das kenne ich von mir und von Freundinnen. Es ist grundlegender Teil der ganz normalen weiblichen biografischen Erfahrung, in der Freizeit, im Beruf, im Privatleben. Ja, hier und heute in der Schweiz.

Einmal etwa hatte ich mich bei einem nationalen Bergsportverband beworben. Der Geschäftsführer erzählte mir, er habe die Auflage, sich um «Gender»-Belange zu kümmern – er spuckte das Wort aus, als hätte er in einen faulen Apfel gebissen. Dann fragte er mich, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm ein Büro zu teilen. Das war keine Frage, es hiess: Du, genau Du hast in meinem Büro nichts verloren. Anderntags rief er mich an und erklärte mir, ich passe nicht in seinen Verband.

Die Outdoor-Branche ist ein boomendes Geschäft unserer Zeit. Die Berge sind eine Sehnsuchtswelt. Sie werden gerne als Metapher für das Arbeitsleben beigezogen. Am Berg zeigten sich Führungskompetenz und die wahren Fähigkeiten, heisst es. Die Berge sind männliches Terrain.

Mit dem männlichen Schutz in den Bergen ist es jedoch so eine Sache. Ich bin heute Tourenleiterin, im Ehrenamt. Bei meiner Ausbildung war ein Teilnehmer dabei, der seit zwanzig Jahren in seiner Firma Leute auf den Berg führte und sich formal bestätigen lassen sollte. Nun, er hat die Prüfungen nicht bestanden. Aber man kann dem Mann gar nicht so grosse Vorwürfe machen. Von ihm mit seinen breiten Schultern, seinem Alter, seiner sonoren Stimme wollten sich alle gerne auf den Berg bringen lassen. Männer und Frauen schlugen besseres Wissen aus Unfallstatistiken und arbeitspsychologischen Studien in den Wind, sie schluckten seine Worte wie Gold. Es war ein Klacks für ihn, in die vor ihm ausgebreitete Rolle zu schlüpfen und selbst an seine Fähigkeit zu glauben. Nicht so bei mir. Mir, mit meiner schmalen Statur und meiner leisen Stimme nimmt man erst mal nicht ab, dass ich Wind und Wetter einschätzen kann und über Ausdauer und Biss verfüge. Und wie bloss soll ich mit meinen langen, hochgesteckten Haaren Karten lesen können und ein räumliches Vorstellungsvermögen haben? Ich muss das zuerst einmal – und immer wieder beweisen. Ja, auch mir selbst. Und wenn ich all diese Dinge mit grossem Energieaufwand tatsächlich hinkriege, bestätigt das nicht meine Weiblichkeit. Vielmehr gerate ich in einen Konflikt widersprüchlicher Identitäten. Ich bin dann ein seltsames Zwitterwesen, eine Art Zombie.

Wenn ich all diese Dinge mit grossem Energieaufwand tatsächlich hinkriege, bestätigt das nicht meine Weiblichkeit.

#MeToo muss man in einem breiten Kontext sehen. Die Medien haben viel über die Harvey Weinsteins dieser Welt berichtet. Sie haben die Frauen gefeiert, die mit ihren Geschichten hingestanden sind. Und: Wir Medien berichten über Frauendemos, über Forderungen nach Lohngleichheit, über den Anspruch, Politikerinnen in Bundesrat und Parlament zu wählen, über die Ergebnisse von Gleichstellungsberichten in der Wirtschaft. Sich selbst hält die Medienbranche jedoch im toten Winkel. Die Medien stellen sich gerne als meinungsbildende Kraft dar, als vierte Gewalt im Staat. Nur: Sie sind immer noch in fester Männerhand. Immer wenn im Zug der Umwälzungen der Branche in den letzten Jahren sich eine neue Unternehmensleitung präsentieren durfte, stand vor mir eine Männerwand. Innerhalb der Teams verstärkt sich mit Medienkonzentration und fortschreitendem Stellenabbau diese Tendenz – bei meinem letzten Arbeitgeber wurden alle fähigen Frauen aus den wichtigen Führungspositionen verdrängt. Aber wo der Ton härter wird, gehen viele Frauen auch aus sogenannt freien Stücken. Wo bleibt da die weibliche Stimme, wo bleiben weibliche Werte in der Meinungsbildung?

Einmal sprach ich mit einem Vorgesetzten über Teamkultur, Arbeitsbedingungen und wie man diese verbessern könnte. Diesen Mann hatte ich als aufgeschlossenen, kulturell- und gesellschaftspolitisch interessierten, agilen Menschen kennen gelernt, der sich sicher für Gleichberechtigung, wenn nicht für Förderung von Frauen aussprechen würde. Er verwarf die Hände und erklärte mir, die Welt sei nicht so, wie ich mir das vorstelle. Er empfahl mir, den Job zu wechseln und eine Arbeit in einem ruhigeren Gewässer anzunehmen. Täuschte ich mich oder schwang in seiner Stimme Euphorie mit, jetzt könne man auf dem Schlachtfeld zu voller Form auffahren und sich endlich richtig beweisen? Noch immer frage ich mich, ob es die wachsende Macht ist, die den Blick verengt.

Bei der Feier eines prestigeträchtigen Literaturpreises stellte einmal eine Moderatorin die problematische Doppelrolle eines Jurors, der gleichzeitig Publizist war, zur Diskussion. Sie doppelte mit seiner vernichtenden Kritik eines nominierten Buches nach. Harte Recherche, würde man meinen. Ein Mann wäre dafür gefeiert worden. Die Frau allerdings, die Moderatorin, musste sich für ihre Professionalität rechtfertigen. Die verletzten Männerseelen – der Kritiker, der Veranstalter, der Autor sowie ein hochgejubelter Schriftsteller – schlossen die Reihen.

Ein andermal kritisierte ich in einem Kommentar einen Kritiker. Ich habe viele gute Rückmeldungen erhalten. Eine negative jedoch, von einem Kulturjournalisten, in meinem Alter, eigentlich ein liebenswürdiger und netter Mann. Er war gar nicht auf meine Argumentation eingegangen, sondern verbat mir via Social Media pauschal, diesen Kritiker überhaupt anzutasten. Wenn es die Aufgabe des Kritikers ist, zu kritisieren, was ist dann die Aufgabe der Kritikerin? Was Hans darf, wofür er gelobt und gefeiert wird, darf die Hänsin noch lange nicht, dann schliessen sich die Männerreihen, es fliegen Steine. Dieser Kulturjournalist hat der #MeToo-Debatte auf seinen Seiten viel Platz eingeräumt. Und auch die Männer, die gegen die Moderatorin die Reihen geschlossen hatten, würden sich auf Nachfrage für Gleichberechtigung aussprechen, dessen bin ich mir sicher.

«Was für eine Personalpolitik betreibst du und was genau hast du gemacht, damit keine Übergriffe in deinem Umfeld vorkommen? Oder: Wie viele feministische Bücher hast du gelesen?»

«Warum verhalten sich Männer immer noch so?» Genau diese Frage hat mir ein Journalist gestellt. Und ich hörte mich antworten: «Feminismus ist bloss ein Wimpernschlag im Vergleich zur langen Geschichte des Patriarchats.» Ich hätte mich ohrfeigen können, hatte ich das wirklich gerade gesagt? Hatte ich ihm hier wirklich gerade den Watteteppich ausgerollt? Es klang wie eine Entschuldigung, schlimmer, wie eine Einladung: Ruh dich ruhig noch weitere 2000 Jahre auf der patriarchalen Tradition aus. Der Journalist war ein Mann, und er war Vorgesetzter, aber er hatte durchaus interessiert geklungen. Dabei staute sich in mir eine ganze Flut von Fragen: Woher soll ich das wissen, erklär du mir das doch bitte einmal? Oder: Warum werden Sexismus und Gleichberechtigung noch immer als Frauenthema behandelt? Warum haben sich bisher so wenige Männer journalistisch mit dem Thema befasst? Wie viele Hintergrundtexte und Leitartikel hast du über #MeToo geschrieben? Oder: Was für eine Personalpolitik betreibst du und was genau hast du gemacht, damit keine Übergriffe in deinem Umfeld vorkommen? Zahlst du Frauen in deinem Betrieb den gleichen Lohn wie einem Mann? Oder: Wie viele feministische Bücher hast du gelesen? Wie viele über Karrieretipps für Frauen? Wie viel Literatur, die von spezifisch weiblicher Erfahrung erzählt?

Klar, man kann sagen: Männer verdienen noch immer 25 Prozent mehr als Frauen, also ist es nur recht, wenn sie den Kaffee zahlen. Aber das ist der falsche Ansatz. Wer heute von der Opferrolle des Mannes spricht, betreibt patriarchalen Backlash. Es stehen noch längst nicht alle Regler in der Mitte. Vor allem nicht die Regler in unserem Kopf.

publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 2. März 2019. Bild: Guerrilla Girls ©Tate Films