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Mehr Relevanz in der Literatur

In ihrem Kommentar zu den Solothurner Literaturtagen schreibt Anne-Sophie Scholl, Literaturredaktorin der «Schweiz am Wochenende»: «Autoren am Rand der Szene können wertvolle Impulse geben»

Die Solothurner Literaturtage sind gut unterwegs. Mit 18 000 Eintritten konnten die Veranstalter im letzten Jahr einen neuen Rekord vermelden. In den Vorjahren waren jeweils 16 000 Eintritte gezählt worden, das bedeutet einen Zuwachs von 2000 Eintritten. Ein toller Erfolg — zumal in Zeiten, in denen die Literatur und das Lesen unter Druck stehen. 6 Millionen Leser seien weggebrochen, vermeldete letztes Jahr eine Studie aus Deutschland und scheuchte mit dieser Schreckensnachricht die Szene auf.

Wie also erklärt sich der Erfolg von Solothurn? Zum einen ist es so, dass zwar die Zahl der Buchkäufer schwindet – die deutsche Studie hatte sich auf diese Grösse gestützt. Lesungen, Lesefestivals oder ganz allgemein Begegnungen und Anlässe, an denen man Literatur live erleben kann, erfahren hingegen einen Boom. Zum anderen lässt sich der Erfolg von Solothurn auf Änderungen in der Gestaltung des Programms zurückführen. Im letzten Jahr war der Sonntag mit einem ganztätigen Programm als dritter Veranstaltungstag deutlich aufgewertet worden. Mit den zusätzlichen Sonntagsveranstaltungen konnten auch zusätzliche Eintritte verbucht werden – Freitag und Samstag hingegen waren nicht besser besucht als in den vorangehenden Jahren.

Gerade Autorinnen und Autoren am Rand der Literaturszene können wertvolle Impulse geben

In Änderungen wie dieser tritt die Handschrift der Leitung von Reina Gehrig am offensichtlichsten zutage. Sie hat die Literaturtage fünfmal erfolgreich durchgeführt. Mit Pausen zwischen den einzelnen Veranstaltungen ist das Programm auch luftiger gehalten, Staus und lange Schlangen entfallen, die Veranstaltungsorte konzentrieren sich neu rund um das Zentrum im Landhaus, die Moderationen sind professionell, der Auftritt schlicht und klar, die Literatur steht im Zentrum. Eine schöne Idee ist das niederschwellige Abendprogramm, bei dem man von Ort zu Ort flanieren kann, sozusagen auf Du und Du mit den Autorinnen und Autoren. Im vergangenen Jahr erstmals durchgeführt, brachten die in der Bilanz nicht enthaltenen Besuche dieser Abendveranstaltungen nochmals geschätzte zusätzliche 700 Eintritte.

Alles bestens also? Ja und nein. Denn natürlich geht es bei den Literaturtagen vor allem um die Literatur. 1978 war der Anlass gegründet worden, um einen Ort zu schaffen, wo einmal im Jahr die Autoren sich treffen, austauschen und einem Publikum vorstellen können, ja, um so etwas wie eine Schweizer Literaturszene überhaupt erst einmal zu erschaffen. Damals wie heute ist das Herzstück die Werkschau, eine Auswahl der Texte des zurückliegenden Literaturjahres. Welche Texte in die Werkschau kommen, entscheidet die zehnköpfige Programmkommission. Wer es in die Auswahl schafft, fühlt sich dem Kanon der Schweizer Literatur zugehörig, wer nicht, fühlt sich nicht aufgenommen. So ist die Wahrnehmung der Autorinnen und Autoren, so auch die des Publikums, selbst wenn die Veranstalter betonen, der Umkehrschluss gelte nicht. Viele Besucher bewahren die Programmbüchlein auf, als eine Art wachsenden Almanach der Schweizer Literatur, entsprechend gesehen wird auch die Archivdatenbank der Literaturtage.

Und doch fällt auf: Manche Autoren sind Stammgäste und scheinen fast schon zum Inventar zu gehören, andere Namen, obwohl im Gespräch, tauchen nie auf. Die Literaturtage wollten «Öffentlichkeit für alle Formen der Literatur» schaffen, liest man im Leitbild. Neu wurde Spoken Word als fester Bestandteil ins Programm eingeschrieben, wie Lyrik oder Kinder- und Jugendliteratur. Sonst aber scheint man sich bei der Auswahl auf einen Standpunkt literarischer, will heissen vor allem sprachlicher Kriterien zurückzuziehen. Autoren mit grosser Resonanz in der Bevölkerung wie Joël Dicker oder Sibylle Berg finden in Solothurn nicht statt.

Dabei könnten gerade Autorinnen und Autoren am Rand der Literaturszene wertvolle Impulse geben. Ein Buch wie Corinna T. Sievers’ Roman über eine Nymphomanin ist für brave Schweizer Verhältnisse eine Sensation. Bei Joël Dicker ist der Plot interessant, auch wenn die Figurenzeichnung differenzierter sein könnte. Und Milena Mosers frühere Romane hatten womöglich mehr Potenzial, etwas anzustossen, als ihr aktueller und zweifellos literarisch bester Roman. Doch erst mit diesem wurde sie eingeladen.

Solothurn steht dafür, Entdeckungen zu ermöglichen, und die Literaturtage sind eine wichtige Plattform für literarisch elaborierte Werke. Aber thematische Relevanz und gesellschaftliche Resonanz gehören als Kriterien für Literatur dazu. Literatur darf nicht im Elfenbeinturm stattfinden.

publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 25. Mai 2019