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«Ich schaukle mich hoch»

In ihrem neuen Buch «Aus der Zuckerfabrik» verhandelt die Schriftstellerin Dorothee Elmiger drängende politische Themen. Aber nicht der Inhalt, sondern die experimentelle Form sorgt bei Lesern für Irritation

Sie kommt mit einem alten Herrenvelo zum Treffpunkt, in schlichtem hellem Shirt und Sommerhosen, die Haare trägt sie nun schulterlang. Man könnte sie für eine Studentin halten. Wir gehen durch das Quartier, in dem sie wohnt, am Rand der Stadt. Dorothee Elmiger zeigt auf einige Gebäude, die sich hinter hohen Bäumen verbergen: hier die ersten Hochhäuser von Zürich, dort das Max-Frisch-Bad. Eigentlich hatte sie die nahe gelegene Stadtgärtnerei für das Treffen vorschlagen wollen, wegen Corona sind die Palmenhäuser jedoch geschlossen. Max Frisch und die Pflanzen aus aller Welt, die Perlhühner, die zwitschernden Vögel: Damit sind wir schon mittendrin in ihrem neuen Buch Aus der Zuckerfabrik. Es ist das dritte Werk von Dorothee Elmiger. Ihr Debüt Einladung an die Waghalsigen von 2010 und Schlafgänger von 2014 waren beide für den Schweizer Buchpreis nominiert, beides sind Bücher, die aktuelle gesellschaftspolitische Themen aufgreifen, aber auch Lesegewohnheiten herausfordern. Einen Plot findet man darin nicht.

Auch das neue Buch hat keinen Plot. Es handelt von Denk- und Schreibbewegungen, mit denen die Autorin tief in die Geschichte eintaucht, Fundstücke aus unterschiedlichsten Texten hervorholt, zeitliche und geografische Bögen schlägt und feinen Verbindungen und Verwandtschaften nachspürt zwischen Lebenswelten, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: dem Kapitalismus und der Industrialisierung in Europa, dem transatlantischen Handel, der Revolution der Sklaven auf Haiti, der Sucht, dem Begehren.

Konvergenz verschiedenster Stränge

«Es gibt ganz viele Anfänge für das Buch», sagt Dorothee Elmiger. Wir sitzen jetzt in einem kleinen Café an einer befahrenen Strasse. Die Autorin erzählt von einem Dokumentarfilm, den sie gesehen und in ihr Buch verwoben hat. Der Film porträtiert den Schweizer Lottokönig Werner Bruni, einen einfachen Arbeiter, der in den 1980er-Jahren seine eben gewonnenen Millionen umgehend verlor. In einer kurzen Einblendung zeigt der Film die Konkursversteigerung, der Auktionator hält zwei Frauenfiguren in die Höhe, mutmasslich aus Haiti: «Schaut nur diese Brüste», sagt er, um den Preis zu treiben. Und schliesslich fällt der Hammer.

Eine «Konvergenz verschiedenster Stränge der Geschichte» scheine in dieser Szene auf, schreibt Elmiger im Buch, «so als kollidierten unterschiedliche Gesteinsobjekte, Himmelskörper und als sorgte ihr Aufprall für eine sekundenlange Erleuchtung der Dinge, des Gerölls und des Staubs.»

Im Buch versucht sie, diese Stränge zu fassen. Ein Bild, das sie «elektrisiert», eine «leuchtende» Passage in einem historischen Text, bei Karl Marx zum Beispiel oder beim Sozialanthropologen Sidney Mintz, eine Szene in einem Sanatorium, Aufzeichnungen der Psychiatriepatientin Ellen West oder der Mystikerin Teresa von Avila: Elmiger stellt diese Fundstücke in den Raum, Lücken dazwischen lässt sie bewusst stehen, und immer wieder kehrt sie zu der Versteigerungsszene zurück – sie, beziehungsweise die Erzählerin im Buch, die sie nah an der eigenen Biografie geformt hat. Nicht um von sich zu schreiben, sagt Dorothee Elmiger, sondern weil das Thema die Frage nach der Perspektive fordert, danach, wie sie familiär, kulturell in die Geschichte verstrickt ist: sie, die Europäerin, die weisse Frau. Monatelang habe sie immer wieder Textfassungen verworfen, bis sie den richtigen Ton für dieses «Ich» gefunden habe.

Es ist ein künstliches «Ich», trägt aber auch spielerische Züge. Es sucht sich einen Weg durch die gefundenen Textpassagen, wird befragt, eignet sich die Welt in einem männlich-triumphierenden Zugriff an. «In einer Kutsche rase ich durch England», schreibt Elmiger. «Ich öffne meine Jeans und fahre mir mit meiner Hand zwischen meine Beine, ich stifte mich an, ich wiegle mich auf, schaukle mich hoch, und alles gehört mir, die Häuser und die Strassen, die auslaufenden Schiffe, die grossen Weltmeere, ich gebe mir alles, kann mir jetzt alles geben, alles ist mir untertan, insbesondere aber der Franzose, der die Pferde lenkt, mein kleiner französischer Diener, was habt ihr denn gedacht.»

Verblüffende Parallelen

Elmigers Buch verhandelt Themen, die derzeit die Gesellschaft aufwühlen: die Rassismusdebatte, die Geschlechterdebatte (die Kutsche ist das klassische Symbol unterdrückten weiblichen Begehrens), die ökonomischen Ungleichheiten. Vielschichtig, weit ausgreifend in Zeit und Raum, mit verblüffenden Parallelen scheinen diese Themen auf.

«Was ist nicht politisch, wenn man von der Sprache ausgeht?»

Elmiger lehnt sich zurück, dreht den Kopf zur Seite. Es sei seltsam, sagt sie nachdenklich, sie suche gerade nicht die Aktualität, im Gegenteil, sie ziehe sich zum Schreiben zurück, um in Ruhe und ohne Zeitdruck arbeiten zu können. Sie kenne keine andere Tätigkeit, die sie so ausschließlich besetze wie das literarische Schreiben. Ein politischer Mensch sei sie schon, zupacken und solidarisch handeln sei wichtig. Aber die Arbeit am Schreibtisch finde auf einer anderen Ebene statt. «Was ist nicht politisch, wenn man von der Sprache ausgeht?», fragt sie. Gesellschaftliche Muster und Konventionen würden sich immer in der Sprache zeigen, auch wenn man über Liebe schreibt.

Im Buch greift sie Max Frisch auf. Elmiger reist auf seinen Spuren nach Montauk, wo Frisch ein Wochenende mit einer Geliebten verbrachte und sein Leben als «unbefangenes Wesen» untersuchte. Ein Leben als «unbefangenes Wesen», gibt es das auch für eine Frau? Und wie unbefangen war Frisch wirklich, fragt sich Elmiger, während sie als weisse Frau mit ihrem amerikanischen Begleiter mit haitianischen Wurzeln in Montauk steht und einen Blick auf seinen Text wirft. «Der schaurige Irrtum des Paars, es sei allein hier», schreibt sie.

Eine Abrechnung mit Max Frisch ist das nicht, der Autor sei wichtig für sie. Aber es gehe darum, Texte weiterzudenken und weiterzuschreiben. Aus der Perspektive der Nachfolgenden würden gewisse Begriffe einem Text umgehend alles Visionäre nehmen. Das gelte auch für ihren eigenen Text, sagt sie. Dieser wolle eine Zukunft vorstellen. Dafür muss sie mit heutigen Begriffen und Denkkategorien arbeiten, mit Mann, Frau, Arbeiter und kolonialem Subjekt. Dereinst, wenn diese Denkkategorien überholt sind, ist der Text nicht mehr als ein Dokument seiner Zeit.

Widersprüchliche Impulse

Dorothee Elmiger ist 35, bis vor Kurzem war sie Studentin. Nach dem Besuch des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und noch vor der Publikation ihres Erstlings hat sie sich in Geschichte eingeschrieben und vor zwei Jahren abgeschlossen. Sie hatte Bilder der bewegten 1960er- Jahre mit Theodor Adorno und debattierenden Studenten vor Augen, vielleicht gerade weil sie in einer dörflichen Welt im Appenzell aufgewachsen war. Aber auch die Recherche im Archiv fasziniert sie, und dann war da der Wunsch, nicht im Literaturbetrieb und von der Literatur leben zu müssen. «Es sind widersprüchliche Impulse: mich vollständig aufs Schreiben zu konzentrieren und zugleich dem Schreibtisch und seiner Einsamkeit zu entkommen», sagt sie. Bisher konnte sie sich schrei- bend und kellnernd sowie mit Gelegenheitsjobs oder Aufträgen gut durchschlagen.

Bei ihrem ersten Buch war sie nicht davon ausgegangen, dass es publiziert würde – wegen dessen experimenteller Form. 2009 nahm sie am Nachwuchsprogramm des Ingeborg-Bachmann-Preises teil. Dort lernte sie ihren künftigen Lektor Martin Kordić kennen und wurde die erste Autorin, die dieser für ein Verlagsprogramm gewann. 2010 er- reichte sie beim Wettlesen um den Bachmann-Preis den zweiten Platz mit einem Auszug aus ihrem Debüt. Martin Kordić empfiehlt, jedes der Bücher von Dorothee Elmiger als Einladung zu begreifen, Fäden aufzunehmen und sie selbst weiterzuspinnen. Er sagt, er gehe aus jeder Lektüre klüger hervor, obwohl ihm keine Antworten mit auf den Weg gegeben würden. «Es ist eine Literatur, die jedes Mal ganz anders und ganz zeitlos auftritt, und doch immer für mein unmittelbares Hier und Jetzt eine grosse Bedeutung hat, mir den Blick öffnet für die Komplexität der Gegenwart.»

Doch Elmigers Lektor war sich nicht bewusst, wie schwierig es ist, für sprachlich und formal so besondere Bücher Leserinnen und Leser zu finden. Elmigers Texte sind dicht, voller Anspielungen und Zitate und mit offenen, beweglichen Bezügen. Trotzdem kann man sie voraussetzungslos lesen. So wie ihre drei jüngeren Geschwister das tun, die auch mal eine Passage überspringen, wenn sie ihnen zu wirr erscheint. Aber manche Leute reagieren sehr heftig auf die formale Irritation. »Inhaltlich hingegen könnte ich fast alles schreiben, ohne solchen Ärger hervorzurufen«, sagt Elmiger.

Als grundsätzliche Kritik an der klassischen Erzählform will sie ihre Art zu schreiben nicht verstanden wissen. »Eine geniale Erzählerin oder ein genialer Erzähler könnte aus einem Stoffkonglomerat eine Erzählung machen, die die Dinge nicht schmälert, eindeutig macht, sondern im Gegenteil noch komplexer«, sagt sie. »Ich kann es nicht.«

Gleichwohl hat die Kritik ihre bisherigen Bücher sehr gut aufgenommen. Ihrem Lektor ist Elmiger unterdessen zu Hanser gefolgt, einem der renommiertesten deutschen Verlage. Bereits jetzt ist klar, dass Aus der Zuckerfabrik eines der wichtigsten Bücher des Jahres werden wird. Weil es die drängenden Themen trifft, diese aber auf halluzinierende Art verhandelt und vorführt. Und wegen der Präzision und der leuchtenden Schönheit seiner Sprache.

Dorothee Elmiger: «Aus der Zuckerfabrik», Hanser, 272 Seiten

publiziert in Die Zeit Schweiz am 13. August; © Peter-Andreas Hassiepen/Hanser