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«Jetzt steige ich wie Phönix aus der Asche»

Vor 10 Jahren hat sich Natascha Kampusch aus der Gefangenschaft selbst befreit. Doch die Jahre in Freiheit liessen ihr keine Ruhe. Ein Gespräch darüber, wie die Tat am Opfer zu kleben kommt – und über mögliche Schritte in die Zukunft

Frau Kampusch, Ihr neues Buch heisst «10 Jahre Freiheit». Mit was für einem Gefühl blicken Sie auf diese 10 Jahre zurück?

Natascha Kampusch: Es war nicht wirklich immer Freiheit. Ich war oft Sachzwängen unterworfen, aber auch oft der Missgunst anderer Menschen.

Gab es Momente, in denen Sie sich frei gefühlt haben?

Kleine Momente gab es natürlich schon.

Wie fühlten sie sich an?

Für mich ist Freiheit etwas, was man nicht erfassen kann. Man kann es nur im Moment verspüren, und deshalb kann es auch ohne die äusseren Umstände bestehen. Trotzdem, toll fand ich zum Beispiel diese Reise 2007 nach Barcelona, wo ich interviewt wurde. Da sass ich mit dem Journalisten auf dem Katamaran und habe Freiheit gespürt.

In Ihrem neuen Buch geht es um die Ablehnung, die Sie durch die Gesellschaft erfahren haben – Sie nennen sie «soziale Mauern». Wann kippte die Anteilnahme, die Sie anfangs erlebt hatten?

Das muss wohl schon Anfang 2007 gewesen sein. Also vielleicht ein halbes Jahr nach meiner Befreiung.

Und wie erklären Sie sich das?

Ich denke, es hat etwas mit dem Hass der Menschen zu tun. Vielleicht auch mit Selbsthass, weil sie mit ihrem eigenen Leben nicht klarkommen. Und mit der Verzweiflung, mit der sie nicht umgehen können. Sie würden selbst auch gerne sagen, ich habs geschafft, ich habs überstanden. Oder sie hätten selbst gerne Hilfe oder Aufmerksamkeit. Viele glauben, ich sei reich.

Also Neid?

Ja, aber auch die Tatsache, dass ich überlebt habe. Viele denken, ich müsse etwas gemacht haben, was vielleicht nicht rechtschaffen gewesen sei.

Für viele Leute ist es schwierig, dass Sie selber sich nicht nur als Opfer sehen.

Das irritiert die Menschen, ja. Sie hätten lieber ein gebrochenes, verletztes Opfer, das Unterstützung braucht und das sich nicht mehr selbständig bewegen kann. Vielleicht wäre es besser, ich wäre alkoholkrank, würde Antidepressiva schlucken und rauchen.

Irritiert hat auch, wie differenziert Sie den Täter und die Situation Ihrer Gefangenschaft beschrieben haben.

Viele Leute wollen einfach Gut und Böse – so à la Silvester Stallone auf der einen und die Bösewichte auf der anderen Seite. Das gibt es in dem Fall eben nicht.

Sie zeigen grosse Beharrlichkeit und Stärke, Ihre eigene Geschichte zu erzählen. Weshalb?

Es ist mir wichtig, dass ich nicht falsch verstanden werde. Es ist eine Art Durchsetzungswille. Ich möchte mich nicht von anderen Leuten instrumentalisieren lassen. Ja, das ist es.

Woher kommt dieser Wille?

Vielleicht hat sich das in der Gefangenschaft stärker entwickelt. Aber ich war immer schon so. Es ist einfach ein Teil meiner Persönlichkeit.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich weiss noch, wie ich mir als Kind selbst das Schwimmen beigebracht habe. Ich ging immer und immer wieder ins Wasser und tauchte, bis ich halbwegs schwimmen konnte. Mir war schon übel und schwindlig, aber ich war nicht davon abzubringen.

Trotzdem, wäre es nicht ein­facher, die Anfeindungen und Verschwörungstheorien einfach zu ignorieren?

Das habe ich auch immer wieder gemacht. Aber manchmal gab es Situationen, in denen ich doch reagieren musste. Es spitzte sich so zu, dass ich auf offener Strasse von fremden Leuten angefeindet wurde. Auch in gerichtlichen Prozessen konnte ich nicht anders, als Stellung zu beziehen.

Während Ihrer Gefangenschaft haben Sie Strategien entwickelt, mit den Erwartungen des Täters umzugehen und sich selbst minimalen Freiraum zu bewahren. Was für Strategien haben Sie entwickelt, um mit dem gesellschaftlichen Druck umzugehen?

Ich hab mir eine Gelassenheit ­angeeignet, indem ich mir einfach denke, jeder ist ein Mensch, jeder hat seine Vorstellungen vom Leben. Auch wenn das manchmal divergiert und auch ethisch und moralisch nicht zu vertreten ist, was diese Menschen machen. Ich sehe das eher buddhistisch, wenn Sie so wollen.

Für wen haben Sie Ihr neues Buch geschrieben?

Für mich und auch für die anderen, die es vielleicht interessiert, wie die Dinge wirklich abgelaufen sind. Das Buch ist keine komplette Innenschau, aber doch eine Abrundung, damit die 10 Jahre schriftlich fixiert werden.

Mehr für sich oder mehr für die anderen?

Manchmal war es während des Schreibprozesses für die anderen, manchmal war es aber auch für mich, um zu sagen, okay, so war es, und jetzt steige ich noch einmal wie Phönix aus der Asche und habe ein schönes ­Leben.

Das Buch wird Ihnen noch einmal viel Aufmerksamkeit bringen, es wird aktuelle Bilder von Ihnen geben, es kommen Fragen wie jetzt von mir. Haben Sie davor nicht Angst?

(zögert) Nein, in dem Sinn nicht. Ich habe mich auch damit arrangiert, beziehungsweise ich finde es interessant. Sonst sässe ich vielleicht an Ihrer Stelle und würde Interviews machen und einen Fotografen dabeihaben, der meine Interviewpartner fotografiert.

Das haben Sie ja schon gemacht – Sie hatten ja eine Talkshow im Fernsehen.

Ja, mit Nicki Lauda und mit Veronika Ferres. Es war damals sogar Maximilian Schell im Gespräch, aber dazu kam es nicht mehr.

Was hat Ihnen an der journalistischen Arbeit gefallen?

Ich bin sehr an Menschen interessiert. Es ist spannend, Fragen zu deren Leben zu stellen. Ich mag das Zuhören. Aber da bin ich mit einem Psychologiestudium auch nicht so falsch bedient, wenn ich es denn beginnen sollte.

Das ist Ihre Idee für Ihre Zukunft?

Ich möchte mich in dem psychologischen Bereich bewegen, aber nicht therapeutisch tätig sein.

Noch zu dem Buch . . .

. . . haben Sie Psychologie studiert? Manche machen das ja im Vorfeld und werden dann Journalist.

Ich interessiere mich dafür, aber ich habe Soziologie und Sprachen studiert. Wollen Sie mit Ihrem Buch auch ein Stück weit die Gesellschaft verändern?

Das ist auch eine Motivation. Ich möchte gerne etwas mitverändern innerhalb der Gesellschaft. Das ist mir ein sehr grosses Anliegen. Aber Sie kennen ja die aktuelle Lage. Man weiss nie, was aus den Leuten wird, die sich zu weit aus dem Fenster rauslehnen.

Haben Sie Vorkehrungen getroffen, falls Sie negative Zuschriften bekommen?

Ich lese sie einfach nicht mehr, oder ich lese im Schnellleseverfahren drüber. Es ist deren Entscheidung, mir das zu schreiben, aber es ist auch meine Entscheidung, das abzulehnen.

Nach Ihrer Flucht haben Sie sich bewusst entschieden, mit Ihrem Namen an die Öffentlichkeit zu treten, haben Sie das jemals ­bereut?

Im Prinzip nicht. Weil es auch kompliziert gewesen wäre, eine andere Identität zu haben. Für mich kam das von Anfang an eher nicht infrage.

Es gab damals einen enormen Druck. Sie haben als Antwort ­darauf offensiv kommuniziert. Würden Sie das rückblickend ­anders machen?

Auch nur zum Teil. Es war wichtig, dass das nicht alles verfälscht dargestellt wird und dass meine Eltern rehabilitiert sind.

Ihr erstes Interview nach Ihrer Selbstbefreiung erweckte den Eindruck, dass Sie Ihre Situation damals schon gut erfasst und eigentlich auch weitgehend ­bewältigt hatten.

Ich sehe das schon so. In meinem Land sehen die Leute oder die Journalisten das aber anders. Vielleicht auch absichtlich, damit Skandale erzeugt werden.

Was haben Ihnen die Therapien in den letzten Jahren gebracht?

Ich habe gelernt, mehr auf mich selbst zu hören. Am Anfang habe ich alles neu und spannend empfunden und versucht, mich auch an anderen Leuten zu orientieren, die mich belächelten oder auch ausnutzen wollten. Es war wichtig, zu sagen, ich bin in Ordnung, so wie ich bin. Durch das ­öffentliche Mobbing war es sehr schwer, nach draussen zu gehen.

In den Therapien ging es also um Ihre Bedrängung in der Freiheit.

Das war viel wichtiger, als eine alte Wunde noch mal aufzureissen.

Sie haben Ihre ganze Jugendzeit nur mit einer einzigen Person verbracht, die Sie extrem unter Druck gesetzt hat. Was tun Sie, wenn Sie neue Kontakte knüpfen, damit Ihnen die Vergangenheit nicht in den Weg kommt?

Ich versuche, so unvoreingenommen wie möglich zu sein und einfach die Personen zu beobachten und sie sie selbst sein zu lassen. Mit der Zeit kristallisiert sich ­heraus, ob die Person vertrauenswürdig ist.

Und was brauchen Sie von Ihrem Gegenüber?

Ich nehme an, Wertschätzung ist wichtig und Respekt. Also ernst genommen und akzeptiert zu werden. Das wünscht sich doch jeder Mensch.

Haben Sie Mühe damit, anderen Leuten zu vertrauen oder Nähe zu finden?

Ich habe Mühe, weil manche ­Leute einfach nicht vertrauenswürdig sind. Ich würde ja gerne vertrauen, aber manche Leute – Sie wissen schon. Da gibt es ja ­diesen Spruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Nach Ihrer Selbstbefreiung ­haben Sie davon gesprochen, später vielleicht einmal eine ­Familie zu gründen.

Das war nur damals. Jetzt möchte ich das nicht mehr. Jetzt habe ich damit abgeschlossen.

Aber eine Beziehung können Sie sich vorstellen?

Kann ich mir vorstellen. Ich finde die Idee ganz gut und – aber ich möchte über diese privaten ­Dinge gar nicht reden.

Sie schreiben, der Täter habe Sie wie Modelliermasse behandelt. Macht und Autorität ist ja überall. Wie reagieren Sie auf Macht?

Manchmal umgehe ich sie, manchmal versuche ich, Autonomie zu bewahren, so wie jeder Mensch.

Es ist kein spezielles Thema für Sie?

Doch auch. Aber Macht ist auch etwas Gutes. Macht kann auch ­etwas bewirken. Ich sehe das zweischneidig. Sie kommen ja aus einem Land, wo man Werte hat und den Werten wiederum Wert beimisst.

Wie meinen Sie das?

Die direkte Demokratie ist zum Beispiel ein Wert. Gleichzeitig gibts auch viel Geld und Gold, das sind auch Werte. Auch die Uhren und Präzisionsgeräte sind wertvolle Dinge. Es ist auch ein Wert, Dinge so präzise herzustellen. Und die Sprache ist ein kultureller Wert. Die Schweiz legt sehr viel Wert auf Werte.

Was sind Ihre Werte?

Das muss ich noch rausfinden. Aber auf jeden Fall ist es so, dass ich Dinge auch wertschätzen möchte, so wie ich selbst wert­geschätzt werden möchte. Ich möchte Menschen wertschätzen, und ja . . . (nestelt an ihrem Armband) wie Sie vielleicht beobachtet haben: Ich schaue die ganze Zeit mein Werk an und denke mir, super, toll hast du das gemacht.

Ihr Armband haben Sie selber ­gemacht?

Ja. Und die Kette auch.

Sie haben ja einmal eine Lehre bei einem Goldschmied angefangen.

Ich habe auch vor, weiter Gold zu schmieden. Aber wenn ich mit Halbedelsteinen oder mit facettiertem Glas arbeite, kann ich einfach so stauen wie ein Kind. Ich liebe das. Wenn man Gold schmiedet, ist das eher ein ­Prozess wie bei einem Bildhauer.

Beim Modeschmuck sind Sie freier?

Genau. Da sage ich einfach, ich möchte eine Kette haben und die soll zu dem Kleid passen. Oder: Ich möchte etwas Buntes, was mich an Obstsalat erinnert, und dann kann ich das so zaubern.

Machen Sie den Schmuck für sich selber?

Ich werde später, sogar bald, eine Kollektion herausbringen.

Apropos Zukunftspläne: Ihnen wurde das Haus zugesprochen, in dem Sie gefangen waren. Ist das für Sie eine Form, die Vergangenheit zu verarbeiten?

Momentan ist es eine Last, aber es war auch gut, dass ich es hatte und dass es nicht in falsche ­Hände gelangen konnte.

Sie wollten das Haus ja für soziale Projekte nutzen.

Für eine Flüchtlingsfamilie oder zwei.

Ist das noch aktuell?

Nein. Wenn ich es für mehrere Flüchtlinge nutzen würde, müsste ich die Sanitäranlagen ändern. Es ist eine Frage, ob die Gemeinde das genehmigt. Und für die Familien müsste ich die Haftung übernehmen. Das ist alles schwierig. Ich möchte mich schon weiter für Flüchtlinge engagieren. Aber wenn es nicht in dem Haus sein soll, dann eben nicht.

In Sri Lanka haben Sie bereits eine Klinik gestiftet. Was bewegt Sie zum sozialen Engagement?

Wenn ich glücklich bin, möchte ich das mit anderen teilen. Oder generell anderen Menschen helfen. Es gibt so viele, die einfach zur Seite schauen und gar nichts tun. Zu denen möchte ich nicht gehören.

Sie haben das ja selber erlebt.

Ja. Ich wurde gefragt, ob ich das aus einem Schuldgefühl heraus mache, weil ich überlebt habe. Aber nein, ich habe keine Schuldgefühle. Ich finds prima. (strahlt)

Wieso sollten Sie Schuldgefühle haben?

Viele Holocaustopfer haben Schuldgefühle, weil sie denken: Warum habe ich überlebt und nicht meine Oma oder andere? So könnte ich auch ein Schuldgefühl haben, weil viele kleine Kinder und auch ältere Vermisste tot ­aufgefunden werden.

Empfinden Sie es als Glück, dass Sie überlebt haben?

Vielleicht ist es Zufall. Ich empfinde es schon positiv, aber ich weiss nicht, ob man es als Glück bezeichnen kann. Dann müsste ich ja ein Glückspilz sein. Darauf will ich mich nicht verlassen.

Sie empfinden Ihre Selbst­befreiung nicht als Ihre Leistung?

Auch, aber die äusseren Umstände spielen mit. Wären sie anders gewesen, hätte mir meine Persönlichkeit gar nichts gebracht. Es hat einfach für diese Situation gereicht, zu überleben.

Der Tag Ihrer Befreiung jährt sich jetzt ja zum 10. Mal – wissen Sie, was Sie an dem Tag machen?

Ich werde ihn ganz normal so wie jeden anderen Tag verleben. Vielleicht gebe ich aber auch ein Interview, das weiss ich noch nicht. Und sonst – es steht ja jetzt in den Medien. Meist bleibe ich an dem Tag zu Hause, um nicht angesprochen zu werden. Und dann bekomme ich von zwei Menschen immer auch Geburtstagsglückwünsche, weil das mein zweiter Geburtstag ist.

Natascha Kampusch – 10 Jahre Freiheit

In den Räumlichkeiten ihres Berliner Verlags lächelt uns von Zeitungsausschnitten an den Wänden das Gesicht einer jungen Frau entgegen. Es ist ihres: Noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin des neuen Buches von Natascha Kampusch ist sie wieder in allen Medien. Das ORF zeigte ein beinahe einstündiges Porträt über sie, zwei grosse Magazine brachten Exklusivgeschichten, andere Vorankündigungen, fokussiert auf herausgepickte Details. Dass sie das Haus ihres früheren Peinigers besitzt. Und dass sie sich jetzt eine Beziehung vorstellen könne. Wird das Leben der heute 28-Jährigen ein weiteres Mal unter dem Brennglas der Öffentlichkeit zerpflückt?

Am 2. März 1998 wurde die damals 10-jährige Natascha in einem Wiener Vorort entführt. Nach 81/2 Jahren gelang es ihr am 23.?August 2006, sich selbst zu befreien. Der Täter Wolfgang Priklopil brachte sich noch am selben Tag um. Der mediale Druck war von Anfang an enorm. Um dem entgegenzuwirken, gab Natascha Kampusch nur zwei Wochen nach ihrer Flucht ein erstes Fernsehinterview. Kampusch kommunizierte offensiv. Trotzdem kursierten Verschwörungstheorien, man vermutete mehrere Täter, sie selbst und ihre Mutter wurden als mitschuldig verdächtigt, die Boulevardpresse bauschte Spekulationen reisserisch auf. Der Fall wurde fünfmal neu aufgerollt. Immer wieder sickerten vertrauliche Aussagen aus polizeilichen Einvernahmen an die Öffentlichkeit. Noch in diesem Frühjahr versuchte Kampusch, den Verkauf eines Buches zu stoppen, in dem Beschriebe von Videos, die der Täter von ihr gemacht hatte, zu finden sind.

In ihrem ersten Buch («3096 Tage», List, 2010) schreibt Kampusch über ihre Entführung. Dabei analysiert sie erstaunlich reflektiert ihre Situation und zeichnet ein differenziertes Psychogramm des Täters. Im neuen Buch setzt sie sich mit den öffentlichen Anfeindungen aus­einander und zieht Parallelen zur Gefangenschaft: «Der Täter wurde zu einem Gegner, dem ich im Lauf der Jahre zunehmend auf Augenhöhe begegnet bin. Mit denen, die in Freiheit meinen Weg kreuzten, konnte ich nicht auf Augenhöhe sein. Sie waren ausgestattet mit einer enormen Macht und Reichweite.» Das Buch erzählt aber auch von Aufbrüchen, etwa von ihrem sozialen Engagement in Sri Lanka, wo sie eine Kinderklinik gestiftet hat.

Beim Treffen in Berlin hat Natascha Kampusch bereits einen Interviewmarathon mit vier Gesprächen hinter sich. Sie tupft sich das Gesicht ab und legt das Taschentuch beiseite, «für die Tränen». Dann dreht sie sich ab und rückt einen Talisman im Ausschnitt ihres Kleides zurecht. Ist das symptomatisch? Kampusch gibt prägnant formulierte Antworten. Während sie spricht, senkt sie meistens den Blick, wenn sie mit einer Aussage fertig ist, schaut sie auf und lächelt häufig. Aber immer wieder schweift sie ab. Mal sorgt sie sich, ob sie Sommersprossen erwischt hat, mal, ob ein Glied ihres Armbandes fehlt, mal fragt sie interessiert nach der Schweiz. Der Verdacht liegt nahe: Das ist keine Konzentrationsschwäche, eher Schutz – damit sie nicht mehr über die dunklen Zeiten reden muss. Lieber über lebensfrohe Dinge. 

Natascha Kampusch: «10 Jahre Freiheit», List, 240 Seiten.

publiziert in AZ Nordwestschweiz /AZ Medien am 15. August 2016. Bild © Christian Mang