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«Literatur bringt das Menschliche zurück»

Politik und Religion grenzen uns voneinander ab, Literatur verbindet uns: Die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak warnt vor einer Erosion der Demokratie. Im Einfühlungsvermögen sieht sie ein Gegenmittel gegen die Radikalisierung

Elif Shafak bezeichnet sich selbst als Nomadin. Diese Woche war sie zwei Tage in der Schweiz, um Interviews zu geben. Beim Gesprächstermin in einem Zürcher Hotel ist sie sehr zuvorkommend. Viel Zeit steht nicht zu Verfügung, aber sie bietet an, weitere Fragen per Mail zu beantworten. Von sich aus übergibt sie am Ende des Gesprächs eine violette Visitenkarte mit ihrer Adresse. Shafak redet schnell. Bei politischen Fragen klingt sie engagiert und antwortet mit den analytischen Begriffen der Politikwissenschafterin. Bei Fragen zu ihrem Buch und zu ihrem Schreiben wird ihr Ton warm, die Aussagen werden konkreter. Sie rede offen, sagt Elif Shafak, und es sei ihr wichtig, dass ihre Äusserungen richtig verstanden würden.

Frau Shafak, Sie waren im Juni kurz vor dem Putschversuch zum letzten Mal in der Türkei. Wissen Sie, wie der Alltag der Leute in Istanbul ist?

Elif Shafak: Ich verfolge die Si­tuation sehr genau, lese viel, rede viel mit den Menschen. Ich bin sehr besorgt und demoralisiert. Viele Leute, türkische Liberale und Demokraten, sind sehr niedergeschlagen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan schien am Anfang progressiv. Ein Irrtum? 

Seine Partei kam vor dreizehn Jahren an die Macht. Je länger die AKP an der Macht war, umso autoritärer wurde sie. Am Anfang hatten viele Liberale und Intellektuelle mehr Hoffnung, weil die AKP zu der Zeit für die EU war, sie war für Reformen, sie redete davon, eine neue, pluralistischere Verfassung zu schaffen. Aber die Partei hat sich sehr verändert, der Wille zur EU-Mitgliedschaft besteht nicht mehr, das Land hat sich zurückentwickelt.

Glauben Sie, der Präsident habe den Reformwillen nur vorgetäuscht, bis er genug Macht hatte, seine wirklichen Absichten durchzusetzen? 

Wir können nicht in die Köpfe der Leute schauen, wir können nur die Fakten anschauen. Sie zeigen, dass die AKP am Anfang anders war. Um 2005/2006 gab es zudem einen Wendepunkt, indem sich die Beziehungen zu der EU verschlechterten. Die nachfolgende Isolation war nicht gut. Sie beschleunigte die autoritäre Entwicklung in der Türkei.

Die heutigen Beziehungen zu Europa sind sehr fragil. 

Ich glaube an die Idee eines Weltbürgertums. Ich will Brücken bilden. In der Türkei verlieren wir derzeit unsere Demokratie. Das sollte kritisiert werden. Aber wenn wir eine Regierung kriti­sieren, sollten wir nicht das tür­kische Volk vergessen. Es gibt eine zivile Gesellschaft in der Türkei, es gibt Junge, Frauen, Minderheiten. Wir sollten Wege finden, die progressiven Kräfte in der Türkei zu ermutigen. Die türkischen Demokraten fühlen sich sehr einsam.

Ist die Türkei denn noch eine Demokratie? 

In der ganzen Welt kommen derzeit Demokratien auf, die nicht liberal sind. Die Türkei ist ein deutliches Beispiel dafür. Diese Demokratien haben gewählte Regierungen. Sie kamen durch die Mittel der Demokratie an die Macht, sind dann aber autoritär geworden. Wahlen sind eine Voraussetzung für die Demokratie. Aber der Rechtsstaat darf nicht beschnitten werden, es braucht die Gewaltentrennung, die Redefreiheit, es braucht unabhängige Medien, die Rechte von Frauen und Minderheiten müssen gewährleistet sein. Sonst ist es keine echte Demokratie, sondern es gilt bloss die Macht der Mehrheit, die Macht des Populismus. In der Türkei haben wir heute ein Machtmonopol.

Was halten Sie von dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei? 

Die Flüchtlingskrise ist die schlimmste humanitäre Krise, die die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Die EU-Bürokratie hat versucht, das Problem auszulagern, nicht nur in die Türkei, auch nach Jordanien und in den Libanon. Aber es gibt viel zu viele Flüchtlinge, das Modell wird einstürzen. Ausserdem ist dieser Umgang mit Flüchtlingen nicht ethisch. Unethisch ist es auch, wenn Europa wegen des Deals zu den Verletzungen der Meinungsfreiheit in der Türkei schweigt. Die Krise ist ein internationales Problem, und sie kann nur gelöst werden, indem wir als Weltbevölkerung alle zusammenarbeiten.

Europa müsste also mehr in die Pflicht genommen werden?

Natürlich. Aber Europa hat grosse Probleme. Ich respektiere und verstehe die Ängste der Leute ­wegen der Flüchtlinge und der Immi­granten. Die liberale Linke hat die Ängste der Leute nicht verstanden. Deswegen wenden sich diese Leute dem populistischen rechten Rand zu. Das ist in England passiert, es passiert in Amerika und in Europa. Die liberale Linke muss einen neuen Zugang finden, der die Gefühle der Leute ernst nimmt.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die gesellschaftliche Elite in der Türkei als grundsätzlich demokratiemüde. Ist das so? 

Historisch gesehen spielte das Bürgertum im Westen eine progressive Rolle. In der Türkei war das nicht so. Das Bürgertum hat sich nie gegen die Machthabenden gestellt. Für mich ist es erstaunlich, dass heute sogar Mitglieder der gebildeten, westlich orientierten Mittelschicht sagen: Vielleicht ist Demokratie ein westliches Konzept, das bei uns nicht funktioniert. Aber wir sollten uns nicht von der Demokratie verabschieden, wir sollten sie verbessern.

Sehen Sie sich als politische ­Autorin? 

Wenn man als Autor aus Ländern wie der Türkei, Pakistan, Ägypten, Nigeria kommt, kann man sich den Luxus, unpolitisch zu sein, nicht leisten.

Sie haben einmal gesagt, Politik trennt, während die Literatur vereint. Wie meinen Sie das? 

Wenn ich schreibe, lasse ich mich nicht von der Politik, sondern von der Vorstellungskraft leiten. Die Kunst, Geschichten zu erzählen, gründet auf Einfühlungs­vermögen. Es geht darum, die ­Geschichte aus der Sicht eines anderen zu verstehen. Die tägliche Politik dagegen gründet auf Abgrenzung. Es gibt die unterschiedlichen politischen Parteien, manchmal auch grössere Unterteilungen wie bei der gespaltenen Gesellschaft in der Türkei. Für einen Schriftsteller gibt es kein «wir», keine «anderen», nur Menschen.

Kann die Literatur die Welt ­verbessern? 

Die Literatur kann zu einer Lösung beitragen. Wir Autoren müssen uns mehr zu Wort melden. Das fällt uns nicht leicht, weil Autoren einsame, introvertierte Geschöpfe sind. Aber es ist wichtig, dass wir unsere Stimme teilen. Wenn die Welt ihr Einfühlungsvermögen verliert, wird sie sich radikalisieren. Empathie ist ein wichtiges Konzept. Alle Ex­tremisten versuchen, die anderen zu entmenschlichen. Dadurch wird es erst möglich, grausam zu sein. Literatur bringt das Menschliche zurück, sie erinnert uns daran, dass die anderen menschliche Wesen sind wie wir.

Sie sind sehr populär in der Türkei. Haben Sie dennoch Probleme mit Ihren Büchern?

Ich erhalte alle Arten von Hass­reden, Schmähungen, Attacken, besonders von der Elite, aber ich war immer die Autorin meiner Leser. Für mich sind die Rückmeldungen meiner Leser herzerwärmend. Ein türkischer Autor zu sein, bedeutet Küsse auf die eine Wange und Schläge auf die andere.

Wie reagiert die offizielle Seite? 

Regierungsnahe soziale Netzwerke und Medien schreiben manchmal haltlose Anschuldigungen und Verunglimpfungen. Man ist dem ausgeliefert, weil man keine Möglichkeit hat, sich zu erklären. Wenn es eine Frau betrifft, ist es noch viel schlimmer, die Sprache ist dann zudem sexistisch.

Frauen spielen eine prominente Rolle in Ihren Büchern. Wie gehen in der Türkei Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund miteinander um? 

Ich glaube an die Idee der Schwesternschaft. Ich wuchs mit meiner Mutter auf, die sehr modern, westlich ausgerichtet, säkular und sozialdemokratisch war, und mit meiner Grossmutter, die traditioneller, orientalisch, spiritueller war. Ich sah, wie sie beide einander gegenseitig unterstützten. Das ist mir geblieben. Ich finde es sehr wichtig, dass Frauen zusammenhalten. Tun sie es nicht, profitiert das Patriarchat. Wir müssen Wege finden, Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammenzubringen, so, dass sie einander stärken. Das passiert nicht in der Türkei.

Und wie stehen die Musliminnen zueinander?

In der muslimischen Welt werden die wichtigsten Fragen von Frauen gestellt: Fragen zu Glauben, Religion, Identität, Sexualität und Freiheit. Viele Frauen debattieren diese Fragen, vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber in ihrem privaten Raum, in Cafeterias, in Universitäten, zu Hause. Es kommt nicht von ungefähr: Wenn die Gesellschaft zurückfällt, werden Frauen mehr Rechte verlieren als die Männer.

Wie erklären Sie sich das? 

Autoritäre Regimes sind patriarchal, sie wollen die Körper der Frauen und ihre Freiheiten kon­trollieren. In der Türkei haben wir starke Frauen in den Medien, in der Werbung, in der Wissenschaft, in den Künsten – in jeder Sphäre des Lebens, ausser in der Politik. Die Politik in der Türkei ist sehr machoid und aggressiv.

Sie haben sich gegen das Kopftuchverbot ausgesprochen. Wo liegen die Grenzen Ihrer ­Toleranz? 

Wir sollten von Schwarz-Weiss-Diskussionen wegkommen. Ich bin Feministin. Mein wichtigstes Anliegen ist es, Frauen zu stärken. Ich möchte, dass Frauen in den öffentlichen Raum kommen, dass sie an die Uni gehen, Karriere machen und eigenes Geld haben. Lasst uns nicht gegen Studentinnen sein, die das Kopftuch und Jeans tragen und versuchen, ihren eigenen Weg zu finden. Diese Mädchen kommen aus konservativen Häusern, wenn wir sie zurückzwängen, werden die Dinge für sie nicht besser. Aber meine rote Linie ist das Alter: Noch nicht wahlberechtigten Mädchen das Kopftuch anzuziehen, ist für mich inakzeptabel.

Und wie stehen Sie zur Burka?

Der Gesichtsschleier ist etwas ­anderes. Wir haben rund um die Welt viele Sicherheitsanliegen, und es ist verständlich, wenn sich jemand nicht wohlfühlt neben jemandem, dessen Gesicht komplett verhüllt ist. Ich verstehe dieses Anliegen und respektiere es. Ich will zu einer differenzierten Diskussion zurückkommen.

Sie nennen Ihre drei Hauptfiguren im Buch die Sünderin, die Gläubige und die Verwirrte. Welcher von ihnen fühlen Sie sich am nächsten?

Als Autorin reflektierte ich meine Stimmen in allen drei Mädchen. Aber ich bin keine von ihnen. Ich verstecke mich gern im Innern meiner männlichen Charaktere. Vielleicht verstecke ich mich in dem Dozenten der drei Studentinnen.

Und wie halten Sie es mit der Religion?

Ich bin nicht gläubig und mag organisierte Religionen nicht, die die Menschheit in «wir» und «die anderen» aufteilen. Aber ich interessiere mich für die Möglichkeit, dass Gott existiert. Und ich mag individuelle, nach innen orientierte, spirituelle Reisen. Ich fühle mich Agnostikern und heterodoxen Mystikern nahe.

Ein Glaube, in den der Zweifel hineinspielt? 

Heterodoxe Mystiker versuchen immer zu lernen und haben keine Gewissheiten. Die religiösen Leute wollen den Zweifel loswerden. Und die atheistischen Leute wollen den Glauben loswerden. Ich will, dass der Glaube und der Zweifel miteinander tanzen.

Elif Shafak und «Der Geruch des Paradieses»

Elif Shafak ist die bekannteste Schriftstellerin der Türkei. Sie wurde 1971 in Strassburg geboren und lebt zwischen Istanbul und London. Shafak studierte Internationale Beziehungen, hat einen Master in Gender Studies und hat in Politischen Wissenschaften promoviert. Sie ist Dozentin für Nahoststudien sowie Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations. Elif Shafak ist verheiratet und hat zwei Kinder. «Der Geruch des Paradieses» (Kein & Aber, 560 S.) ist Elif Shafaks neunter Roman. Es geht um die Freundschaft von drei Musliminnen und ihre Suche nach Gott. Die mit Witz und Tiefgang erzählte Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet und spiegelt zahlreiche Facetten der türkischen Gesellschaft.

publiziert in AZ Nordwestschweiz / AZ Medien am 19. November 2016. Bild © Olivier Hess